Soziale Medien – Twitter
Erstellt von Redaktion am Mittwoch 12. Januar 2022
Twitter ist nicht nur ein Rattenloch
Eine Kolumne von Margarete Stokowski
Viele Feuilletonisten verteufeln die sozialen Medien. Doch so schlimm, wie alle tun, sind die dann auch nicht: Es gibt twerkende Bäume, gute Tätowierer*innen und intelligenten Pimmelcontent.
Wenn ich keine Accounts in den sozialen Medien hätte und mich nur übers Feuilleton darüber informieren würde, was auf Twitter, Instagram und den anderen Plattformen so los ist, würde ich denken, es muss die absolute Hölle sein. Das wäre ein bisschen richtig, aber ansonsten ziemlich falsch. Man muss natürlich über das sprechen, was schiefläuft, ich habe selbst erst vor Kurzem einen Essay über den sogenannten »Hass im Netz« geschrieben, leider bin ich da unfreiwillig Expertin geworden. Können Sie gern lesen. Aber nicht jetzt.
Es liegt natürlich in der Logik von Medien, dass über schlechte Nachrichten öfter berichtet wird als über gute Nachrichten. »45.000 Deutsche haben sich gestern mit Corona infiziert« ist eine Nachricht, »72 Millionen Deutsche haben gestern lecker gefrühstückt« ist keine. Aber wir wollten ja übers Feuilleton reden, und da stehen naturgemäß nicht nur Nachrichten im Sinne von »gestern hat Person X im Ort Y dies und das gesagt«, sondern hauptsächlich Betrachtungen zum Zustand von Gesellschaft und Kultur, und da kommen soziale Medien im Schnitt richtig schlecht weg. Unfair, wenn Sie mich fragen!
Aus Feuilleton-Sicht sind soziale Medien größtenteils ein ekliges Rattenloch voller Cancel Culture und Prangerkultur, ein kaltherziger Hass-Marktplatz, an dem man nix mehr sagen darf, als Mann natürlich sowieso nicht, und überhaupt natürlich der Schoß, aus dem die #MeToo-Bewegung kroch, die seitdem kontinuierlich Existenzen vernichtet. Außerdem eine perfide Like-Maschine, die Frauen zwingt, sich die Lippen aufspritzen zu lassen und sich beim Schminken zu filmen. Auf jeden Fall nichts, wo man intellektuelle Herausforderungen erlebt oder einfach nur Spaß haben kann. Aber ganz ehrlich, wenn soziale Medien so wären, wie man im Feuilleton lesen kann, würde sich da niemand mehr einloggen.
Ironie verstehen viele auch außerhalb von Twitter nicht
Vor ein paar Tagen konnte man auf Zeit Online lesen: »Die Logik der sozialen Medien beruht auf einer Ja/Nein-Fassung der Welt, in der dritte Positionen kaum einen Platz haben.« Die Literaturwissenschaftlerin Erika Thomalla schrieb, es gebe dort »wenige Spielräume für neutrale, abwägende, ambivalente oder uneindeutige Äußerungen«, viel Affirmation und Eskalation, man sei irgendwie immer »progressiv oder konservativ, links oder rechts, dafür oder dagegen« und man müsse immer mit einem Zwinkersmiley oder einem Hashtag markieren, wenn man was ironisch meint, damit man nicht falsch verstanden wird.
Das stimmt allerdings nicht so ganz. Es stimmt zwar, dass es Leute gibt, die ironische Aussagen mit einem »#Sarkasmus« markieren, und es gibt Leute, die Angst haben, irgendwann etwas Missverständliches oder Falsches zu machen und dann per Shitstorm gegeißelt zu werden. Aber: Erstens gibt es haufenweise ironische Aussagen auf Twitter, die nicht als solche gekennzeichnet werden, das kann ich als Heavy User Ihnen versichern. Und zweitens ist es zwar richtig, dass Leute ironische Aussagen manchmal ernst nehmen, aber das passiert außerhalb von sozialen Medien halt auch jeden Tag. (Ich habe einmal eine komplett ironische Kolumne darüber geschrieben, was für ein feministischer Held Justin Trudeau doch ist, und es gibt heute noch Menschen, die denken, dass ich den geil und heiß finde. Mann, Leute!)
Und, drittens: Es ist manchmal erst recht lustig zu sehen, was Leute alles falsch verstehen können. Ein paar Tage vor Silvester schrieb einer meiner Lieblings-Twitteraccounts, DJ Lotti: »in eigener sache: mein mann wurde gestern an der grenze zu polen mit 2 tonnen böllern in seinem ford transit erwischt. die anwaltskosten können wir leider unmöglich selber tragen. ich habe deshalb ein gofundme eingerichtet (erstmal 150000€ als spendenziel)«. Es gab leider richtig viele Leute, die das ernst nahmen und sich über uneinsichtige Böllerfans aufregten. Würde man sich mit dem Account ein bisschen beschäftigen, wüsste man, dass »DJ Lotti« nach Selbstauskunft eine 14-jährige schwer erziehbare Jugendliche ist, die gerade die Trennung von ihrem ungefähr zwölften Ehemann durchmacht, sich auf ihre Kandidatur als Oberbürgermeisterin von Stralsund vorbereitet, aber auch demnächst nach Madeira auswandern will, manchmal ihren Schülerpraktikanten die Treppe runterwirft und neulich von Elke Heidenreich verprügelt wurde. Das mit den Böllern könnte natürlich trotzdem stimmen, wir wissen es nicht.
Warum gibt es im Feuilleton so selten Betrachtungen darüber, was einfach nur unfassbar lustig oder lieb oder schlau ist und aus den sozialen Medien kommt? Es ist ein bisschen witzig, dass den sozialen Medien so oft vorgeworfen wird, alles zu verkürzen und zu polemisieren und nur Schwarz und Weiß zu kennen – und dass das gleichzeitig eine polemische Verkürzung und Schwarz-Weiß-Denken ist.
Auf Instagram gibt es nicht nur Frauen, die ihre beige eingerichteten Lofts fotografieren und dabei Lipgloss verkaufen, sondern auch Livestreams von Lesungen, es gibt differenzierte Buchkritiken, es gibt Seiten voller Fotos von fliegenden Flughörnchen und orientalischen Katzen, die aussehen wie eine Mischung aus Raubkatze und Fledermaus, man kann dort Ukulele lernen oder wie man sich selbst die Haare schneidet.
Über all das Harmlose schreibt niemand Leitartikel
Quelle : Spiegel-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Plastische Darstellung eines Datenkraken (Spannweite ca. 18 Meter) auf der Demonstration „Freiheit statt Angst“ 2009. Gebaut und koordiniert von dem Künstler Peter Ehrentraut für den FoeBuD e. V. V. (seit 2012: Digitalcourage e. V.
Verfasser | Matthias Hornung |
Quelle | http://wiki.vorratsdatenspeicherung.de/images/Mho_-198-r.jpg |
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Unten — Margarete Stokowski (2018)
Harald Krichel – Eigenes Werk
Margarete Stokowski at Frankfurt Bookfair 2018
- CC BY-SA 4.0Die Persönlichkeitsrechte der abgebildeten Person(en) beschränken bestimmte Weiterverwendungen des Bildes ohne dessen/deren vorherige Zustimmung.
- File:Margarete Stokowski-0672.jpg
- Erstellt: 13. Oktober 2018
Erstellt am Mittwoch 12. Januar 2022 um 12:20 und abgelegt unter Feuilleton, Kultur, Mensch, Politik und Netz. Kommentare zu diesen Eintrag im RSS 2.0 Feed. Sie können zum Ende springen und ein Kommentar hinterlassen. Pingen ist im Augenblick nicht erlaubt.