Schweine vor Gericht
Erstellt von Redaktion am Freitag 10. August 2018
Im christlichen Europa galten Tiere über Jahrhunderte als schuldfähig
von Laurent Litzenburger
Im Jahr 1408 fanden im Königreich Frankreich zwei ungewöhnliche Gerichtsverhandlungen statt. In Pont-de-l’Arche (Herzogtum Normandie) und in Saint-Mihiel (Herzogtum Bar) wurden Schweine, die man beschuldigte, Kinder getötet zu haben, zum Tod durch Erhängen verurteilt. Gut zwei Jahrzehnte zuvor war eine ebenfalls wegen Kindsmord angeklagte Muttersau für schuldig befunden und als Mensch geschminkt vor den Schweinen aus der Gegend hingerichtet worden.
Solche Prozesse scheint es vom 13. Jahrhundert bis in die Neuzeit im ganzen christlichen Abendland gegeben zu haben. Die meisten der bekannten Fälle ereigneten sich im 16. Jahrhundert. Mit der Aufklärung – als auch die Hexenverfolgung allmählich nachließ – hörten die Prozesse gegen Tiere bald auf. Da sie aber insgesamt eher selten vorkamen, galten sie in den Augen vieler Historiker lange als bloße Überbleibsel einer archaischen Rechtspraxis.
Der US-amerikanische Soziologe Edward Payson Evans (1831–1917) zählte für die Zeit zwischen dem Mittelalter und dem 19. Jahrhundert in ganz Europa etwas mehr als 200 Fälle.2 Für das Königreich Frankreich kommt der französische Mediävist Michel Pastoureau auf gut 60 Tierprozesse zwischen 1266 und 1586. Im Herzogtum Lothringen und im Herzogtum Bar sind zwischen dem 14. und dem 18. Jahrhundert 34 Fälle in Archiven dokumentiert, zu denen aber noch weitere Funde hinzukommen könnten. Von einer Mehrzahl der Tierprozesse weiß man ohnehin nur indirekt aufgrund von Buchhaltungsunterlagen und getätigten Ausgaben für Verhandlung und Hinrichtung. Daraus lässt sich schließen, dass die Prozesse selbst nichts Merkwürdiges waren, was eigens erwähnt werden musste.
Noch erstaunlicher ist, dass die Verhandlungen gegen Tiere denselben gerichtlichen Ritualen folgten wie Prozesse gegen Menschen. Tiere wurden als mit Bewusstsein ausgestattete Wesen begriffen, die über einen eigenen Willen verfügten, für ihre Taten Verantwortung trugen und in der Lage waren, den Urteilsspruch zu verstehen. So wurde 1457 in Savigny (Herzogtum Burgund) eine Muttersau mitsamt ihren sechs Ferkeln beschuldigt, ein fünfjähriges Kind getötet zu haben. Der Besitzer hatte Anwälte zu seiner Verteidigung, die Tiere jedoch nicht. Der Mann musste zur Strafe lediglich die Gerichtskosten erstatten, während die Muttersau für schuldig befunden und zum Tod durch Erhängen verurteilt wurde. Ihre Ferkel entgingen dem Galgen, weil niemand ihre Mitschuld bezeugen konnte.
Während der Beweisaufnahme wurden die Tiere genau wie Menschen oft in Vorbeugehaft genommen und zuweilen streng bewacht. 1408 in Saint-Mihiel erhielten beispielsweise mehrere Armbrustschützen für einen zweitägigen Wachdienst bei einem wegen Kindsmord angeklagten Schwein zehn Sous „Trinkgeld“. In Pont-de-l’Arche dauerte die Inhaftierung 24 Tage.
Die Rolle der Justiz war mit dem Urteil beendet. Die Vollstreckung oblag der öffentlichen Gewalt. Wie bei den Gerichtsverhandlungen gegen Menschen fielen die Urteile je nach Kontext sehr unterschiedlich aus: Das Verfahren konnte eingestellt werden, wenn das Opfer seine Verletzungen überlebte, wie 1416 in Hennecourt (Vogesen) der Fall. Manchmal wurden die Beschuldigten mangels Beweisen freigesprochen (wie die Ferkel in Savigny). Umgekehrt konnte aber auch eine ganze Herde hingerichtet werden, wenn der Schuldige nicht zu ermitteln war.
Das Urteil für mörderische Tiere war dasselbe wie für Menschen: Tod durch den Strang. Zuweilen ließ man ihre Kadaver noch eine Zeitlang demonstrativ am Galgen hängen, damit das in Szene gesetzte Recht seine abschreckende Wirkung entfaltete.
Zwar wurde gelegentlich auch Katzen und Bullen der Prozess gemacht, doch die kindsmörderischen Schweine waren bei Weitem in der Überzahl. Schließlich waren sie damals auf dem Land und in den Städten sehr verbreitet. Sie liefen frei durch die Straßen, über Plätze und Friedhöfe. Und obwohl sie sich oft als Müllabfuhr betätigten, waren sie den städtischen Behörden wegen der drohenden Verschmutzung der Wasserstellen ein Dorn im Auge. Der Herzog von Lothringen erließ deshalb 1607 eine Verordnung, die es den Einwohnern von Nancy untersagte, in der Stadt Schweine zu züchten.
Außerdem stellten die Tiere eine Gefahr für kleine Kinder dar, die allein zu Hause blieben, während die Erwachsenen auf dem Feld arbeiteten. Aus spätmittelalterlichen Testamenten geht hervor, welche Sorgen sich Bauern um das Wohl ihrer Kinder machten, bis diese das Alter erreicht hatten, um sich gegen Hunde und Schweine zur Wehr zu setzen. In Frankreich, England und anderswo in Europa wurden die Gerichte nicht müde, den Familien einzuschärfen, besser auf ihren Nachwuchs und ihr Vieh aufzupassen.
Neben den Strafprozessen vor weltlichen Gerichten gab es die Verfahren vor den geistlichen, die eine noch längere Tradition hatten. Diese ansonsten mit kirchlichen Angelegenheiten befassten Gerichte führten auch Prozesse gegen Insekten und Nagetiere, die Nutzpflanzen Schaden zugefügt hatten. Beim ersten bezeugten Fall (1120 in Laon) ging es um Mäuse und Raupen. Im Herzogtum Lothringen, das bis 1766 Teil des Heiligen Römischen Reichs war, gab es zwischen 1692 und 1733 vier Fälle, an denen sich das Grundmuster rekonstruieren lässt. Spuren solcher Prozesse finden sich bis ins 19. Jahrhundert hinein.
Quelle : Le Monde diplomatique >>>>> weiterlesen
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Grafikquelle : „Trial of a sow and pigs at Lavegny“. According to the book, “Among trials of individual animals for special acts of turpitude, one of the most amusing was that of a sow and her six young ones, at Lavegny, in 1457, on a charge of their having murdered and partly eaten a child. … The sow was found guilty and condemned to death; but the pigs were acquitted on account of their youth, the bad example of their mother, and the absence of direct proof as to their having been concerned in the eating of the child.”
Source : The book of days: a miscellany of popular antiquities
Autor : unbekannt
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