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Schulz – SPD :

Erstellt von Redaktion am Mittwoch 6. Dezember 2017

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von Michael Schneider

Auf ihrem Bundesparteitag vom 7. bis 9. Dezember wird die SPD einen neuen Parteivorsitzenden wählen, und wenn nicht alles täuscht, wird der neue auch der alte sein – schlicht mangels tauglicher Alternative. Denn eines steht fest: Längst ist aus dem einstigen Hoffnungsträger eine Hypothek geworden. Nachdem Martin Schulz mit 20,5 Prozent der Stimmen das historisch schlechteste Ergebnis der SPD eingefahren hat, ist er heute nur noch ein Schatten seiner selbst. Der entscheidende Grund dafür besteht darin, dass er – und mit ihm die gesamte Parteispitze – offenbar nie richtig begriffen hat, worin die Ursache seines anfänglichen Erfolgs bestand. Dass Schulz zu Beginn des Jahres diese Begeisterung auslösen konnte, basierte entscheidend darauf, dass es erstmals seit 2005 ein sozialdemokratischer Kanzlerkandidat gewagt hatte, am Allerheiligsten der Schröderschen Reformpolitik zu kratzen, den Hartz-IV-Gesetzen. Welch ein Aufatmen ging durch die Partei – und auch durch viele Nichtwähler, die sich längst enttäuscht von der SPD abgewandt hatten –, als Schulz versprach, die Bezugsdauer für das Arbeitslosengeld I zu verlängern, die ständige Ausweitung der prekären Arbeitsverhältnisse zu stoppen und die soziale Gerechtigkeit, das Ur- und Kernthema der Sozialdemokratie, in den Mittelpunkt seines Wahlkampfes zu rücken.

Dass bis heute gut 20 000 vor allem jüngere Neumitglieder für die SPD zu Buche stehen, ist ganz primär darauf zurückzuführen. Doch fatalerweise ist Martin Schulz diesem Ansatz nicht treu geblieben. Zwar wurde sein Wahlprogramm auf dem Dortmunder Sonderparteitag im Juni einstimmig angenommen, doch so vernünftig viele Forderungen auch waren – von der steuerlichen Entlastung der niedrigen und mittleren Einkommen über die Solidarrente gegen das zunehmende Absinken der Altersbezüge bis hin zu den dringend gebotenen Investitionen in Bildung und Infrastruktur –, ein wirklich mobilisierendes Programm oder gar Projekt war dies beileibe nicht. Denn an die längst überfällige (Wieder-)Einführung der Vermögenssteuer, ob der sich immer weiter öffnenden Schere zwischen Arm und Reich, traute sich der Kanzlerkandidat ebenso wenig heran wie an eine deutlich höhere Besteuerung der großen Erbschaften.

Dabei hätte Martin Schulz durchaus einen offensiven Wahlkampf gegen die „Weiter so!“-Kanzlerin und Chef-Anästhesistin im Kanzleramt führen können – mit der Kernforderung nach Bekämpfung der Armut durch Besteuerung jenes Reichtums, der nicht durch eigene Arbeit verdient ist, sondern durch Spekulationsgewinne oder die Verschiebung nach Panama oder in andere Paradiese erzockt wird. Was aber tat Schulz stattdessen? Er suchte den Schulterschluss just mit dem Vollstrecker der Harz-IV-Reformen, mit Altkanzler Gerhard Schröder, der auf dem Sonderparteitag als „Ehrengast“ und „Festredner“ auftreten durfte.

Kurzum: Der anfängliche Reformer entpuppte sich als Rohrkrepierer. Vielleicht aber waren die Hoffnungen auch von Anfang an illusionär – und vielleicht ist Martin Schulz deshalb auch weiterhin der richtige Übergangsvorsitzende zu einer hoffentlich eines Tages erneuerten SPD. Denn in der Tat, die Probleme liegen tiefer – in einer Partei, die mit der Agenda 2010, diesem trojanischen Pferd des Neoliberalismus, schon vor 15 Jahren weit vom Pfad der „sozialen Gerechtigkeit“ abgerückt ist, sich danach als Mehrheitsbeschafferin für die CDU/CSU verdingte und so in zwei großen Koalitionen ihr politisches Profil weitgehend eingebüßt hat und die heute in Regierungsroutine schier erstarrt scheint.

Neoliberal auf sozialdemokratisch

Tatsächlich steht die SPD mit diesen Problemen im internationalen Vergleich keineswegs allein: Die Sozialistische Partei in Frankreich hat bei den Präsidentschaftswahlen einen so dramatischen Schwund erlebt, dass ihr Überleben fraglich ist. Das Wahlergebnis für die niederländische „Partei der Arbeit“ brach auf 7,5 Prozent ein, die tschechische Sozialdemokratie ist fast zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft, und auch die Sozialdemokratische Partei Österreichs wird jetzt wohl zähneknirschend mit ansehen müssen, wie die ÖVP und der blutjunge Wahlsieger und künftige Kanzler Sebastian Kurz mit der rechtspopulistischen bis neofaschistischen FPÖ eine Koalition eingehen wird – und all dies mitten in der EU.

Die europäischen Mitte-links-Parteien pflegen sich mit zwei Arten von Erklärungen für ihre fortlaufenden Niederlagen zufrieden zu geben: dass sie entweder zu lange in großen Koalitionen gesteckt haben oder dass sie zu langweiligen Technokraten geworden sind. Daher hätten die schillernden Populisten von rechts bis ganz links sie leicht ausstechen können. Aber auch hier liegt das Problem weit tiefer: Die europäischen Sozialdemokratien stecken deshalb in einer chronischen Krise, weil sie sich dem – seit mehr als dreißig Jahren dominierenden – neoliberalen bzw. marktradikalen Wirtschaftsmodell immer mehr angepasst haben – in der Hoffnung, es durch ihre politische Mitwirkung, durchs Mitregieren ein wenig weicher und sozialverträglicher gestalten zu können. Was für ein fataler Trugschluss! Zwar ist es dem herrschenden Kartell aus Politik, Wirtschaft, Wirtschaftswissenschaft und Medien gelungen, der arbeitenden Bevölkerung ein Dauerprogramm der sozialen Demontage – Lohn- und Rentenkürzung, Kürzung von Sozialleistungen und prekäre Arbeitsverhältnisse – als „notwendige Reformen“ zu verkaufen, damit „wir im globalen Wettbewerb bestehen können“, wie es so schön heißt. Doch registrieren immer mehr Menschen in Europa, junge wie alte, dass sie – trotz Arbeit – stetig ärmer werden, dass ihr Wohnraum kaum noch bezahlbar und die Zukunft ihrer Kinder höchst unsicher ist, derweil eine skrupellose Elite mit Finanz- und Immobiliengeschäften immer mehr Reichtum anhäuft. Tatsächlich wird die junge Generation von heute – die Sprösslinge aus reichen Familien ausgenommen – die erste sein, der es in fast allen Belangen, was Arbeit, Einkommen, Wohlstand und soziale Sicherheit betrifft, schlechter geht als ihren Eltern.

Was die extrem ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen angeht, nähern wir uns längst wieder Zuständen, die denen des Ancien Régime ähneln. Der entfesselte Finanzkapitalismus hat zu einer Refeudalisierung der sozialen Verhältnisse geführt, an deren Spitze die neue Geldaristokratie steht. Der jüngsten Oxfam-Studie zufolge besitzen heute acht Multimilliardäre ebenso viel Vermögen wie die Hälfte der Weltbevölkerung. Im Vorjahr wurden dafür noch 62 Superreiche benötigt. In Deutschland sind es 36 Milliardäre, die zusammen so viel Vermögen haben wie die ärmere Hälfte der Bundesbürger zusammen, dem reichsten Prozent gehört hierzulande immerhin noch mehr als ein Drittel des Gesamtvermögens.

Gewiss haben viele Menschen in den unteren Lohngruppen von der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns profitiert, den die sozialdemokratische Arbeitsministerin Andrea Nahles gegen große Widerstände der Union durchgesetzt hat. Und in der Tat ist die offizielle Arbeitslosenquote heute so niedrig wie schon lange nicht mehr. Gleichzeitig haben sich jedoch die prekären Arbeitsverhältnisse und die schlecht bezahlte Leih- und Zeitarbeit dramatisch ausgeweitet.

»Frühkapitalismus im neuen Kleid«

Quelle    :    Blätter >>>>> weiterlesen

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Grafikquelle    :   Schulz Blome, Augstein

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