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Schulen in Deutschland

Erstellt von Redaktion am Donnerstag 9. Dezember 2021

Blick zurück nach vorn

Schulhof - Mauerbemalung.jpg

Kinder werden heute an die Wände gemalt.

Ein Schlagloch von Mathias Greffrath

Auf die Herausforderungen von morgen bereitet die Schule nicht ausreichend vor. Gebraucht werden Werkstätten einer Gesellschaft im Aufbruch.

Steife Servietten, Kronleuchter, jede Menge Silber – das Hotelrestaurant hatte Ähnlichkeit mit dem Kurhaus im Ort meiner Kindheit. Harry, der dort Kellner lernte, war vierzehn, ich war sechs und sah fasziniert zu, wenn er abends die Trinkgeldgroschen zu Zehnerhäufchen stapelte. Im ersten Lehrjahr musste er nur Tische decken und Silber putzen. Damals. Als der Oberkellner kam, fragte ich ihn, ob das immer noch so sei. Er lachte: „Nein, dafür gibt’s Maschinen, aber wir haben ganz andere Probleme.

Wir kriegen überhaupt keine Lehrlinge mehr.“ Und wissen Sie, woran es liegt? Am Gehalt? „Nein. An den sozialen Medien. Da kommen junge Männer an, mit völlig unrealistischen Vorstellungen im Kopf. Die denken, dass sie nach kürzester Zeit einen Sportwagen fahren, bei leichter Arbeit und samstags natürlich frei. Das sind diese Influencer, die ihnen das vorführen …“ Die Wirtin im Ferienort, der Bäcker, der Arzt, der mich boostert – sie alle klagen über den Nachwuchs. Da rutsche etwas ab.

Nicht nur Kenntnisse, sondern Einstellungen: Ausdauer, Leistungsbereitschaft, Verantwortung, Realismus die Welt und sich selbst betreffend. Das kam nicht erst mit den Influencern, sagt meine Freundin, die pensionierte Lehrerin. Die Diskrepanz zwischen Fähigkeiten und unrealistischen Konsumansprüchen habe sie schon vor zwanzig Jahren beschäftigt. Und da sie Soziologin ist, erinnerte sie mich an den Soziologen Daniel Bell, der schon in den Siebzigern die „kulturellen Widersprüche des Kapitalismus“ analysiert hat.

Kurz gesagt: Der Arbeitsprozess erfordert Zuverlässigkeit, Konzentration und Realismus, der Kapitalismus braucht zu seinem Überleben die Unendlichkeit des Begehrens und rasche Stillung: „Jeden Tag was Neues.“ Eine doppelte Entfremdung, so nannte das, wiederum zwanzig Jahre zuvor, 1957, der sozialkonservative Soziologe Helmut Schelsky: auf der einen Seite eine fordernde, zunehmend sinnentleerte Betriebsarbeit, auf der anderen die Ausbeutung durch die „Veranstaltungsindustrien“ und die Werbung.

Zu wenig Lehrlinge

Schelsky forderte, die Schule müsse zur „Neben- und Parallel-Organisation des Elternhauses“ werden. Wenn die Großfamilie zerfalle, die Religiosität verblasse, der Konsumismus die Erziehungsfähigkeit der Familie untergrabe, dann müsse die Schule eine „Gegenstruktur“ sein: gegen die entfremdende Industriearbeit ein Bewusstsein für die Komplexität des industriellen Prozesses und gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge vermitteln, und gegen den, so wörtlich: „Konsumterror“ die Kräfte der Selbstbestimmung stärken, die ein befriedigendes Leben möglich machen.

Lange vor Netflix und Lieferando entwarf Schelsky die Skizze einer Schule, die Technik und Tradition versöhnt, in der musische Erziehung die Kräfte zur Humanisierung der Gesellschaft freisetzt, ein soziales Zentrum, ebenso eng mit den Elternhäusern verbunden wie mit den Betrieben. Schelsky schrieb das in einer Aufbruchszeit, in einer ethnisch relativ homogenen Gesellschaft mit rasantem Wachstum, steigendem Konsumniveau und halbwegs konturierten politischen Parteien und Gewerkschaften.

Bundesarchiv Bild 183-S77144, Schwerin, bei Naturkunde-Unterricht.jpg

Ein Lehrer zeigt auf seine Bildung

Heute ist die Lage komplizierter: eine in Subkulturen zersplitterte Gesellschaft, in der es statt um Konsumsteigerung darum geht, Bestände neu zu verteilen, in der technologische Umwälzungen tief in das Leben der Einzelnen eingreifen und alle Welt nach Zusammenhalt ruft.

Corona hat die Dauermängel unseres Schulsystems (Ausnahmen ausgenommen) gezeigt: den Klassencharakter, die schwache Kommunikation zwischen Eltern und Schule, die starre Organisation, die fehlenden Brücken zwischen Schule und Beruf. Bis jetzt kompensierten Wachstum und Exportüberschüsse die Kollateralschäden dieses Systems, die Vernichtung menschlicher Möglichkeiten.

Das reicht jetzt nicht mehr. Wer jetzt zur Schule kommt, der wird in seinem Erwachsenenleben Pandemien, Völkerwanderungen und Klimakatastrophen erleben. Die Schule der Zukunft wird für Aufgaben bilden müssen, die nicht länger von einem gut gepufferten Sozialstaat übernommen werden können, und neue Haltungen einüben: zur Natur, zur Stadt, zum Konsumieren. In den Schulen ist Ruhe. Keine Manifeste für eine Schule des Anthropozäns.

Quelle        :           TAZ-online         >>>>>         weiterlesen

Grafikquellen          :

Oben     —     Mauerbemalung im Schulhof einer Grundschule

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