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Schon lange Überfällig

Erstellt von Redaktion am Montag 30. Januar 2023

Kretschmanns offener Brief zum Radikalenerlass

 

Heute steht er nur noch vor einer grünen Wand

Von Oliver Stenzel

Lange hat’s gedauert. Acht Monate nach Erscheinen einer Studie über den Radikalenerlass in Baden-Württemberg hat sich Ministerpräsident Kretschmann in einem offenen Brief endlich dazu geäußert. Doch das Ergebnis irritiert.

Die gute Nachricht: Winfried Kretschmann ist lernfähig. Der baden-württembergische Ministerpräsident schreibt in seinem vergangenen Donnerstag veröffentlichten offenen Brief zum Radikalenerlass: „Eine erste Erkenntnis ist für mich, dass die Anwendung des Erlasses unverhältnismäßig war.“ Respekt, das ist mal wirklich eine neue Erkenntnis.

Doch im Ernst: Eine Reaktion Kretschmanns auf die im Mai 2022 veröffentlichte, vom Land in Auftrag gegebene Studie über den sogenannten Radikalenerlass von 1972, dessen Anwendung in Baden-Württemberg und die Folgen für viele Anwärter:innen auf öffentliche Stellen war mehr als überfällig. Monatelang hatten Kretschmann und sein Staatsministerium immer wieder darauf verwiesen, dass noch geprüft werde, dass die Studie ja ziemlich dick sei, dass es drängendere Probleme gebe (Kontext berichtete). Das wirkte schon deshalb unangemessen, weil Kretschmann zum einen selbst in einem Interview Anfang 2022 die Erwartung genährt hatte, sich bald zu äußern, zum anderen, weil die Ergebnisse nicht unbedingt vom Himmel fielen – manche wurden noch vor Erscheinen der Studie im Blog des Heidelberger Forschungsprojekts veröffentlicht.

Sollte das Staatsministerium eine kompetente wissenschaftliche Abteilung haben, und das ist ihm zu wünschen, hätte sich diese wegen einer Bewertung also schon zeitig darum kümmern können. So aber entstand der Eindruck, der Ministerpräsident wolle einer Stellungnahme dazu aus dem Weg gehen, fühle sich unbehaglich damit. Oder spiele bei der Aufarbeitung und Fragen einer Entschädigung oder Rehabilitation auf Zeit, wie es etwa der Mannheimer SPD-Landtagsabgeordnete Boris Weirauch formulierte, bis die „biologische Lösung“ eintrete.

Zu spät und inhaltlich dürftig

Nun gibt es endlich eine Reaktion. Und die ist enttäuschend, da inhaltlich dürftig. Zwar zitiert Kretschmann gleich zu Beginn Willy Brandt, der als Bundeskanzler den Erlass 1972 mitbeschlossen hatte, ihn aber später als „politischen Irrtum“ bezeichnete. Doch diese Wertung macht er sich in der Folge nicht zu eigen, stattdessen die von Brandts Nachfolger im Bundeskanzleramt Helmut Schmidt, laut dem „mit Kanonen nach Spatzen“ geschossen worden sei – will sagen: Nicht der Erlass als solcher war ein Irrtum, sondern nur die Praxis seiner Anwendung.

Diese bewertet Kretschmann auch durchaus kritisch: Für ihn „hat der Radikalenerlass viel mehr Schaden angerichtet als Nutzen gestiftet“, bei der Umsetzung sei das erforderliche „Augenmaß verloren gegangen.“ Dass eine ganze Generation unter Generalverdacht gestellt worden sei, „war falsch“, schreibt der Ministerpräsident. Denn zwar mochten „einzelne … zu Recht sanktioniert worden sein“, aber „manche“ hätten „zu Unrecht durch Gesinnungs-Anhörungen, Berufsverbote, langwierige Gerichtsverfahren, Diskriminierungen oder auch Arbeitslosigkeit Leid erlebt“. Darauf folgt der zentrale Satz des Briefes: „Das bedauere ich als Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg sehr.“ Kretschmann bedauert, er entschuldigt sich nicht bei den Opfern, wie dies zunächst fälschlicherweise etwa die „Deutsche Presse-Agentur“ vermeldete.

Nun lässt sich darüber streiten, wie sinnvoll es ist, wenn sich ein Regierungschef heute für eine Regelung aus dem Jahr 1972 (bundesweit) beziehungsweise 1973 (in Baden-Württemberg) entschuldigt, an deren Umsetzung er nicht beteiligt war. Es könnte ein symbolischer Akt sein, und er hatte ihn vor einem Jahr immerhin in Einzelfällen in Aussicht gestellt. Jetzt verwendet Kretschmann weder das Wort „Entschuldigung“ noch „Rehabilitation“. Doch sein Brief irritiert noch aus einem anderen Grund.

Kretschmann hat sich, diesen Anschein erweckt das Dokument, ziemlich gequält mit dem Thema. Er war selbst einer der Betroffenen, und er geht breit auf diesen Abschnitt seines Lebens ein. Mehr als ein Fünftel des Briefes macht die Thematisierung der eigenen Biographie aus. Das mag man anerkennen, aber genau das ist das Problem: Kretschmanns Beschäftung mit oder eher die große Zerknirschung ob der eigenen Biographie überlagert seine gesamter Beurteilung des Themas. Es ist diese Zerknirschung über die „größte Verirrung meines eigenen Lebens“, die ihm, wie er schreibt, in der Studie gespiegelt werde, „nämlich der Linksradikalismus meiner Studienzeit“: „Mich erschreckt noch heute, dass ein Mensch, selbst wenn er das Glück einer guten Ausbildung hatte wie ich, einen solchen ‚Tunnelblick‘ entwickeln und sich derart in eine verblendete Weltsicht einbohren kann.“ Und er betrachtet es als „aus heutiger Sicht nur logisch und konsequent“, dass ein demokratischer Staat bei Menschen wie dem jungen Kretschmann „Zweifeln an der Verfassungstreue nachgeht“.

Aus dieser Perspektive einer eigenen Verirrung, einer, zugespitzt formuliert, eigenen Schuld, beschreibt Kretschmann dann die mögliche Läuterung und Buße: „Menschen, die abwegige und irrige Positionen vertreten, sind in fünf oder zehn Jahren vielleicht klüger geworden und denken anders“, und solche Lernprozesse müsse die liberale Demokratie fördern und wertschätzen. Eine Gesinnungsprüfung ist also laut Kretschmann nicht deshalb falsch, weil sie der Meinungsfreiheit widerspricht – sondern weil sich die Gesinnung ja ändern, weil sie sich im Sinne des Ministerpräsidenten bessern kann.

Die Betroffenen wollen eine Entschädigung

Eine hochproblematische Deutung, die überdies hinter die Ergebnisse der Studie zurückfällt. Denn es ist völlig irrelevant für die Bewertung des Erlasses, ob die von ihm betroffenen Menschen sich ändern, ob sie sich von ihren früheren Ideen verabschieden oder sie beibehalten, ob sie in Kretschmanns arg paternalistisch wirkenden Worten „klüger werden“. Relevant ist einzig, ob ihre Nichtzulassung zu oder ihr Ausschluss aus öffentlichen Stellen aufgrund eines konkreten Verdachts oder eines Nachweises „einer gegen die Sicherheit des Staates gerichteten Betätigung“ erfolgte. So formuliert es das Übereinkommen Nr. 111 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO/ILO), das sich mit „Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf“ befasst – und übrigens bereits 1961 von der Bundesrepublik ratifiziert wurde.

Quelle         :         KONTEXT:Wochenzeitung          >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben     —     Winfried Kretschmann im Rahmen des Länderrates der GRÜNEN am 17. September 2017 in Berlin (Gasometer Schöneberg)

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