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Schock und Klimapolitik

Erstellt von Redaktion am Freitag 8. Mai 2020

Corona-Schock und Klimapolitik

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Von Philippe Descamps und Thierry Lebel

Gerade scheinen sich alle wunderbar einig zu sein: Der Chef der Deutschen Bank will grüne Jobs fördern, die deutsche Kanzlerin ist jetzt für 55 statt 40 Prozent weniger schädliche Emissionen, und der UN-Generalsekretär fordert, Subventionen für fossile Energien abzuschaffen.

Nach dem Dürrejahr 2018 und der Rekordhitze 2019 hat auch das Jahr 2020 extrem trocken begonnen. In Frankreich beispielsweise war der Monat März der zehnte in Folge mit einer Durchschnittstemperatur über dem Normalwert. Und in Deutschland ist im traditionellen Regenmonat April fast kein Tropfen gefallen.

Da ist es ein schwacher Trost, dass die Luft infolge des weltweiten Shutdowns viel sauberer geworden ist. Zum ersten Mal seit Langem kann man von Lyon aus wieder den Mont Blanc sehen und von den Städten Nordindiens die Gipfel des Himalaja.

Es besteht kein Zweifel daran, dass der Stillstand eines großen Teils der industriellen Produktion in diesem Jahr auch zu einem beispiellosen Rückgang der Treibhausgasemissionen führen wird.1 Aber gibt das schon Anlass zur Hoffnung, dass damit ein historischer Rückgang beginnt?

Ist die Coronapandemie ein heilsamer Schock, der uns die Verwundbarkeit unserer Zivilisa­tion und die Anfälligkeiten vor Augen führt, die das globale Wachstumsmodell, die Hyperspezialisierung und der unaufhörliche Strom von Menschen, Gütern und Kapital hervorgebracht hat?

Auch die Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 hat zu einem deutlichen Rückgang der Emissionen geführt, doch danach sind sie schnell wieder angestiegen und erreichten neue Rekorde. Die aktuelle Gesundheitskrise mag ein Vorbote noch schlimmerer Katastrophen sein, die womöglich auf uns zukommen. Sie lässt sich aber auch als ein vereinfachtes Zeitraffermodell der kommenden Klimakrise betrachten. Darüber hinaus verdeutlicht die Vermehrung der pathogenen Viren ein ökologisches Problem: den Einfluss des Menschen auf die Natur.2 Die Ausbeutung immer weiterer Gebiete stört das Gleichgewicht der Ökosysteme, während zugleich die Massentierhaltung das Seuchenrisiko erhöht.

Wir wissen genug, um zu handeln

Das Virus hat die am weitesten entwickelten Länder am stärksten befallen. Seine Verbreitung erfolgt entlang der Handelswege auf See und mehr noch über die Luftfahrt, deren Wachstum wiederum maßgeblich zum Anstieg der Treibhausgas-Emissionen beiträgt. Die herrschende Logik der Just-in-time-Produktion und Tilgung von Vorsorgemaßnahmen ist ein Beleg für das selbstzerstörerische Verhalten der Menschen: dem individuellen Profit und dem eigenen Wettbewerbsvorteil höchste Priorität einzuräumen.

Auch wenn sich bestimmte Bevölkerungsgruppen oder Regionen als besonders anfällig erweisen, wird sich die Pandemie nach und nach über den gesamten Planeten ausbreiten, genauso wie die Erderwärmung nicht auf die Länder mit den höchsten CO2-Emis­sio­nen beschränkt ist.

Die internatio­nale Zusammenarbeit ist daher in beiden Fällen entscheidend. Die lokale Eindämmung des Virus – oder der Treibhausgasemissionen – bleibt zwecklos, wenn der Nachbar nicht dasselbe tut. Angesichts der zahlreichen Diagnosen wird es auch immer schwieriger, die eigene Tatenlosigkeit durch Unwissenheit zu rechtfertigen. In der Klimatologie wie in der Virologie gibt es einen regen internationalen wissenschaftlichen Austausch; die Forschungsergebnisse sind allgemein zugänglich, und sie werden immer genauer.

Im Fall des Coronavirus haben Wissenschaftler wie Philippe Sansonetti, Professor am Collège de France, schon vor Jahren vor einer Pandemie gewarnt. Die unkontrollierte Verbreitung von gefährlichen Infektionskrankheiten ist eine der größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. An alarmierenden Vorboten hat es nicht gefehlt, das zeigt die Verbreitung von Grippeviren wie H5N1 im Jahr 1997 oder H1N1 im Jahr 2009 und die Corona-Epidemien mit Sars (2003) und Mers (2012).

Ähnliches gilt für den Klimawandel: 1979 beauftragte die US-Regierung ein Expertengremium unter der Leitung des Meteorologen Jule Gregory Charney mit der Untersuchung von zwei Klimamodellen. Der Charney-Bericht, der dem US-Senat anschließend vorgelegt wurde, warnte also schon vor mehr als 40 Jahren vor den möglichen klimatischen Folgen des zunehmenden Treibhausgasgehalts in der Atmosphäre. Und seit etwa 30 Jahren existieren mit dem Weltklimarat (Intergovernmental Panel on Climate Change, ­IPCC) und der Klimarahmenkonven­tion der Vereinten Nationen (UNFCCC) multilaterale Strukturen für den wissenschaftlichen Austausch und gemeinsames Handeln. Die Forscher scheuen keine Mühen, um die Politik und die Bevölkerung über die Gefahren einer beschleunigten Erderwärmung zu informieren.

Die Krisenszenarien sind inzwischen allgemein bekannt. Schon bald nach dem Auftreten des Coronavirus warnten Virologen und Gesundheitsbehörden vor einer drohenden Pandemie.3 Die Ironie der Situa­tion liegt darin, dass die am wenigsten betroffenen Länder in der unmittelbaren Nachbarschaft Chinas liegen.

院長接受防護衣捐贈.jpg

Bis Mitte April meldete Taiwan nur sechs Tote, Singapur zehn, Hongkong vier und Macao keinen einzigen.4 Gewarnt durch die Erfahrungen mit der Sars-Epidemie von 2003, haben die dortigen Behörden diesmal sofort die notwendigen Maßnahmen ergriffen, um das Seuchenrisiko einzudämmen: Gesundheitskontrollen bei der Einreise, massenhafte Coronatests, Isolierung der Erkrankten, Quarantäne für potenziell Infizierte und eine generelle Maskenpflicht.

In Europa hatten sich die Regierungen derweil erst einmal weiterhin mit den Themen beschäftigt, die sie als vordringlich erachteten: In Frankreich war es vor allem die Rentenreform, in Großbritannien der Brexit und in Ita­lien die leidige Regierungskrise, um nur einige zu nennen. Die Maßnahmen, die sie schließlich für die kommenden Monate ankündigten, hätten viel früher umgesetzt werden müssen.

Diese anfängliche Sorglosigkeit führte dazu, dass sie anschließend zu sehr viel drastischeren Mitteln greifen mussten, als bei einem rechtzeitigen Eingreifen nötig gewesen wären – mit umso dramatischeren Folgen für die Wirtschaft, die Gesellschaft und unsere bürgerlichen Freiheiten.

Es sind dieselben Regierungen, die seit 2015 die Umsetzung des historischen Pariser Klimaabkommens immer wieder verschoben haben oder sogar, wie die USA unter der Trump-Administration, aus dem Abkommen ausgestiegen sind. Sie meinen, so könnten sie Zeit gewinnen. In Wirklichkeit aber verlieren sie Zeit.

Die exponentielle Verbreitung des Virus vor der Verhängung von Ausgangsbeschränkungen sollte uns in Erinnerung bleiben. Natürliche Systeme entwickeln sich in Reaktion auf massive Störungen selten linear. In solchen Situationen muss man die ersten Signale eines Ungleichgewichts erkennen und Gegenmaßnahmen einleiten, bevor es zu unkontrollierbaren Ausschlägen kommt und es ab einem bestimmten Punkt kein Zurück mehr gibt.

Wenn etwa die Pflegerinnen und Pfleger in Altersheimen, denen weder Schutzkleidung noch Coronatests zur Verfügung stehen, selbst zu Trägern des Virus werden, können in dieser hochsensiblen Umgebung Infektionsherde entstehen, die das Gesundheitssystem an seine Grenzen bringen – mit der Folge von noch strengeren Ausgangsbeschränkungen. In ähnlicher Weise erhöhen auch im Klimabereich Rückkopplungseffekte – also Effekte, durch die ein Anfangsimpuls verstärkt wird – unsere ökologische Schuld. Es ist wie bei einem mittellosen Kreditnehmer, der zur Tilgung seiner Schulden immer neue Kredite zu immer höheren Zinssätzen aufnimmt.

Quelle        :       Le Monde diplomatique         >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben      —             Food-Court am Wiener Hauptbahnhof

Date
Source Own work
Author Linie29
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Unten      —             立法院院長王金平等接受SARS防護衣捐贈

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