Schlagloch Georg Seeßlen
Erstellt von DL-Redaktion am Dienstag 27. Februar 2018
Totenbett der Demokratie
Von Georg Seeßlen
Die Politik des Weiterwurstelns gefährdet unserer System auf lebensbedrohliche Weise. Denn die Krankheitssymptome werden verdrängt statt behandelt
Wenn man die Ereignisse, die zur Bildung einer neuen Großen Koalition führen sollen, sowie die Protagonisten auf dieser sonderbar surrealistischen Bühne ansieht, kann man sich des Gefühls nicht erwehren, einem politischen System, einer politischen Kultur beim Sterben zuzusehen. Man mag das als Auflösung der „Ära Merkel“ ansehen, als Schlussstrich unter die Geschichte der Sozialdemokratie, als zähes Ableben der „Volksparteien“. Vielleicht ist es aber mehr. Und findet, in anderen Bildern, mit anderen Protagonisten, auch in anderen Ländern Europas statt. Lähmung, Krampf, Ohnmacht, kurz gesagt: Agonie.
Unter der Agonie versteht man einen besonders unangenehmen Teil des Sterbens, der vom Aufbäumen wie von der Apathie begleitet ist, abgeleitet vom allgemeineren griechischen Agonia, das sowohl den Kampf als auch die Versammlung meint, vielleicht auch eine Verbindung von beidem. So wären wir, möglicherweise, am Totenbett eines Systems versammelt, das zumindest einige von uns wirklich geliebt haben. Am Totenbett der Demokratie. Denn was wir erleben in einigen Ländern Europas, ist wirklich einem Sterben sehr ähnlich. Zugleich entzieht sich die Hoffnung auf eine Wiedergeburt als transnationale und hoffnungsstarke Idee Europa immer weiter. In Agonie verfällt ein Herrschaftssystem, wenn die Herrscher selber zu schwach und orientierungslos sind, um die Komplexität ihrer Gesellschaften und Regularien zu handhaben.
Die Zaren, die sich auf ein altes Bündnis mit der Religion verließen, die französischen Könige, die sich in narzisstischem Pomp verloren, der österreichische Kaiser, der melancholisch vom „Weiterwurschteln“ raunzte, bevor ihm seine Welt um die Ohren flog. Agonie eines politischen Systems ist eingetreten, wenn seine Protagonisten es zwar immer noch perfekt, ja überperfekt repräsentieren, aber nicht mehr beherrschen. Warum sollte, was mit feudalen Systemen der Herrschaft geschieht, nicht auch mit demokratischen Regierungssystemen passieren, wenn niemandem etwas anderes einfällt als: Weiterwursteln.
Platon hat vor langer Zeit das Ende jeder Demokratie in der Tyrannei prophezeit. Deutlich machte er das an den Besitzverhältnissen, genauer gesagt am Mangel an Gerechtigkeit. Es scheint, als würden die despotischen, oligarchischen und tyrannischen Formen von Herrschaft sich bereits in der „sanften“ Form der Demokratie herausbilden, um in der despotischen Phase zu neuen Machtknoten zu werden, die schließlich den Umschlag in die pure Tyrannei bewirken. Es ist nicht ganz einfach, zu bestimmen, an welchem Punkt der Entwicklung wir uns befinden. Dass die despotischen, oligarchischen und tyrannischen Elemente indes immer weiter zunehmen, ist kaum noch zu leugnen. Fünf Punkte sind es möglicherweise, die diese Krankheit zum Tode der europäischen Demokratie ausgelöst haben:
Quelle : TAZ >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Georg Seeßlen während seines Vortrags beim „Kölner Kongress 2017“