Schäubles Gehäuse
Erstellt von DL-Redaktion am Sonntag 16. August 2015
Geschichte und Wirkmacht der ordoliberalen Denkschule
von François Denord, Rachel Knaebel, Pierre Rimbert
Wenn noch jemand einen Beleg brauchte, wie gefährlich Volksentscheide für die Funktionsfähigkeit moderner Demokratien sind, hier ist er erbracht,“ wetterte Roland Nelles auf Spiegel Online am 6. Juli 2015 nach dem Ausgang des griechischen Referendums. Die Schockstarre, die das griechische Nein in Deutschland auslöste, rührt von dem Frontalzusammenstoß zweier wirtschaftlicher und politischer Weltanschauungen.
Die eine, die auch der Referendumsidee zugrunde liegt, beruht auf einer genuin politischen Auffassung von Regieren: Die Stimme des Volkes hat Vorrang vor den Regeln der Buchhaltung; eine gewählte Regierung kann die Regeln auch ändern. Der andere Ansatz bindet das Regierungshandeln strikt an die festgelegten Regeln. Die Politiker können handeln, dürfen aber diesen Rahmen nicht verlassen, der de facto durch demokratische Verfahren nicht infrage gestellt werden darf. Eben diese Geisteshaltung verkörpert Finanzminister Schäuble. Für ihn sind die Regeln göttliche Gesetze, wie sein Exkollege Varoufakis bemerkt hat.
Diese „deutsche Ideologie“ hat einen Namen: Ordoliberalismus. Wie die angelsächsischen „Laissez faire“-Verfechter sind auch die Ordoliberalen strikt dagegen, dass der Staat dem Markt die Hände bindet. Aber anders als Erstere gehen die Ordoliberalen davon aus, dass sich die gelobte freie Konkurrenz nicht naturwüchsig entfaltet. Der Staat muss sie vielmehr organisieren, muss den rechtlichen, technischen, sozialen, moralischen und kulturellen Rahmen für das Walten des Markts schaffen – und für die Einhaltung der Regeln sorgen. Foucault hat das Neue am Neoliberalismus deutscher Prägung gegenüber dem alten Liberalismus des 19. Jahrhundert klar benannt: „Es soll sich viel mehr um einen Staat unter der Aufsicht des Marktes handeln als um einen Markt unter Aufsicht des Staates.“
Die Geschichte des liberalen Interventionismus begann vor etwa achtzig Jahren in der turbulenten Zwischenkriegszeit, und zwar in einer Stadt, auf die Herr Schäuble im September 2012 ausdrücklich verwiesen hat: „Ich bin in Freiburg geboren. Da gibt es so etwas wie die Freiburger Schule – das hat was mit Ordoliberalismus zu tun. Das hat einen Zusammenhang mit Walter Eucken. Der war zwar kein Finanzmarktexperte, aber von Ordnungspolitik hat er etwas verstanden.“
Freiburg im Breisgau liegt an den Hängen des Schwarzwalds, unweit des Straßburger Münsters und auch unweit der Schweizer Bankschließfächer. Auch in der damals katholisch-konservativen Hochburg blieb die Wirtschaftskrise von 1929 nicht folgenlos: Aus den Wahlen vom März 1933 ging die NSDAP mit knapp 36 Prozent der Stimmen als Sieger hervor.
Während die Weimarer Republik unterging, machten sich hier drei Universitätsgelehrte Gedanken über die Zukunft. Der Wirtschaftswissenschaftler Walter Eucken wollte seine Disziplin auf philosophischer Grundlage erneuern; die Juristen Franz Böhm und Hans Großmann-Doerth befassten sich aus rechtlicher Sicht mit dem heiklen Problem der Monopole und Kartelle.
Ihre gemeinsame Arbeit mündete in eine eigenartige Synthese: in ein Forschungsprogramm, das sich um den Begriff der Ordnung dreht: „Ordnung“ verstanden als ökonomisches Grundgesetz und zugleich als Spielregel. Um die Kartelle zu neutralisieren und den Wettbewerb zu stärken, sei ein starker Staat gefragt, der aber nicht selbst plant. „Die wirtschaftspolitische Tätigkeit des Staates“ schreibt Eucken, „sollte auf die Gestaltung der Ordnungsformen der Wirtschaft gerichtet sein, nicht auf die Lenkung des Wirtschaftsprozesses.“
Im Gegensatz zum klassischen Wirtschaftsliberalismus englischer Prägung betrachten die Ordoliberalen den Markt und das Privateigentum nicht als natürliche Gegebenheiten, sondern als Ergebnis und Form menschlichen Handelns‚ das eines Ordnungsrahmens bedarf. Deshalb müsse der Staat die Regeln des Wettbewerbs wahren und notfalls wiederherstellen. Zu einem marktgerechten Umfeld gehörten gut ausgebildete Arbeitskräfte, Erhaltung und Ausbau der Infrastruktur, Anreize zum individuellen Sparen, rechtlicher Schutz des Privateigentums, Vertragsfreiheit sowie stabile Eigentums- und Patentrechte.
Zudem betont Eucken die herausragende Rolle eines funktionsfähigen Preissystems. Dafür sorge, schreibt er in seinem wissenschaftlichen „Testament“, eine Wirtschaftsverfassungspolitik, „die darauf abzielt, die Marktform der vollständigen Konkurrenz zur Entwicklung zu bringen. Jede Wirtschaftspolitik scheitert, der dies nicht gelingt. Das ist der strategische Punkt, von dem aus man das Ganze beherrscht und auf den deshalb alle Kräfte zu konzentrieren sind.“ Andernfalls führe der Einfluss von Interessengruppen und der öffentlichen Meinung dazu, das oberste Ziel der Geldwertstabilität zu verfehlen.
Der Ruf des anfangs kleinen Zirkels der Ordoliberalen drang bald über die Freiburger Universität hinaus. Die Ökonomen Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow ergänzten den ordoliberalen Ansatz mit historischen und soziologischen Bezügen, vor allem aber mit einer starken Dosis konservativen Denkens. Die beiden Gegner des Naziregimes deuteten die Ende der 1920er Jahre einsetzende Krise nicht als Versagen des Wirtschaftssystems, sondern als „sekundäre Krise“ der sozialen Ordnung und der Politik. Die Moderne habe das Proletariat entmenschlicht, einen Sozialstaat gemästet und kollektivistische Mentalitäten gezüchtet. Gegenüber dem „Aufstand der Massen“ beschwor Röpke eine „Revolte der Eliten“. Um den Arbeitern ihre verlorene Würde zurückzugeben, müsse man sie in vordemokratische, „natürliche“ Gemeinschaften – Familie, Gemeinde, Kirche – eingliedern und zugleich das Übel der Gleichmacherei ausmerzen.
Der Aufschwung des Ordoliberalismus war Teil einer Bewegung, die sich in den 1930er Jahren unter dem Namen „Neoliberalismus“ international ausbreitete. Dabei stellten sich die „Ordo“-Vertreter gegen liberale „Nostalgiker“ wie Ludwig von Mises und seinen Schüler Friedrich Hayek, die den überkommenen Laissez-faire-Liberalismus nicht kritisieren und verändern wollten.
Ende der 1930er Jahre waren die Herolde der Ordopolitik noch Außenseiter. Im Nazideutschland hatten sie kaum Bündnispartner, wenngleich manche von ihnen in wirtschaftspolitischen Zirkeln des Regimes mitarbeiteten: Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack etwa, die seit 1941 als Vertreter industrienaher Wirtschaftsberatungsinstitute mit dem NS-Staat zusammenarbeiteten. Aber als Denkschule war der Ordoliberalismus in der NS-Zeit in den geistigen Untergrund verbannt. Zwei wichtige Vertreter, Röpke und Rüstow, emigrierten noch 1933, andere gaben ihre Lehrtätigkeit oder ihren alten Beruf auf, um nicht ihr gesamtes Denken widerrufen zu müssen.
Der Erfinder der sozialen Marktwirtschaft
Quelle: le monde diplomatique >>>>> weiterlesen
——————————————-
Fotoquelle: Wikipedie – Urheber Tobias Koch
Diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland“ lizenziert.