Rassismus+Rettungsdienst
Erstellt von Redaktion am Sonntag 18. September 2022
Mit Blaulicht nach rechts
Aus Köln und Berlin von Sebastian Erb und Anne Fromm
Hass auf Geflüchtete, Nazi-Geburtstage im Kalender, rassistische Chats: Rettungskräfte haben ein Problem mit Rechtsextremismus in den eigenen Reihen.
Gleich neben der Tür im Aufenthaltsraum der Feuer- und Rettungswache 9 in Köln, hängt ein Kalender. An einem Sommertag im Jahr 2020 stehen darin plötzlich ein paar neue Namen, mit blauem Kugelschreiber hineingekritzelt. Alle Sanitäter:innen der Johanniter, die sich hier in der Pause einen Tee kochen oder auf den Sofas ausruhen, können sie sehen. Joseph Goebbels, Eva Braun, und am 20. April: Adolf.
Die Johanniter Unfallhilfe ist eine der großen Hilfsorganisationen in Deutschland. Evangelisch, der christlichen Nächstenliebe verpflichtet. Das weiß-rote Johanniter-Kreuz prangt auf Krankenwagen, auf Rettungshubschraubern, auf den Jacken von Sanitätern und Notärztinnen. In ganz Deutschland übernehmen die Johanniter einen Teil des Rettungsdienstes, 6.000 Mitarbeitende auf rund 300 Wachen gibt es. Ihre Hilfe richte sich an „Menschen gleich welcher Religion, Nationalität und Kultur“, heißt es im Leitbild der Organisation. Und: „Unser Umgang miteinander ist geprägt von Achtung und Respekt.“
Auf der Feuerwache 9 in Köln, wo die Johanniter unter anderem einen 24-Stunden-Rettungswagen besetzen, klaffen Leitbild und Wirklichkeit weit auseinander. Die Nazi-Geburtstage im Kalender sind nur der plakative Höhepunkt einer jahrelangen Entwicklung: Rechtsradikale konnten ihre Weltanschauung hier ziemlich frei ausleben. Ein Mitarbeiter hingegen, der das Problem ansprach, wurde gekündigt. „Ich wurde rausgemobbt“, sagt er.
In jüngerer Zeit ist der Rettungsdienst immer wieder in den Schlagzeilen. Es geht um Personalmangel, Überstunden, Überlastung. Es geht darum, dass etwa in Berlin von 140 Krankenwagen an einem Samstag nur 80 verfügbar sind, oder darum, dass Sanitäter:innen im Dienst angegriffen wurden. Darüber wird zu recht gesprochen.
Über Rassismus und Rechtsextremismus im Rettungsdienst reden die Mitarbeiter:innen dagegen nicht so gerne. In diesem Job verbringt man viel Zeit miteinander, auf engem Raum, in 12- oder 24-Stunden-Schichten. Man rast zusammen mit Blaulicht durch die Stadt, man meistert emotionale Einsätze gemeinsam – das verbindet, da verrät man einander nicht. Korpsgeist. Selbst wer sensibel für problematische Entwicklungen ist, schweigt oft lieber, aus Angst vor Konsequenzen am Arbeitsplatz.
Aber manche reden dann doch. In den vergangenen Monaten haben wir ausführlich mit mehr als einem Dutzend Rettungsdienst-Mitarbeitenden gesprochen. Die meisten wollen anonym bleiben. Sie arbeiten in verschiedenen Organisationen, in verschiedenen Bundesländern und in verschiedenen Positionen. Wir konnten Chatgruppen und interne Mails einsehen, Berichte und Unterlagen aus arbeitsrechtlichen Streitigkeiten. Wir stießen auf Rettungsdienst-Mitarbeitende, die sich gegenseitig ein NS-Lied auf dem Handy vorspielen oder gegenüber Kolleg:innen äußern, dass sie ein Flüchtlingsheim lieber anzünden würden, als den Bewohner-innen dort zu helfen. Alles Fälle, von denen die Öffentlichkeit bislang nichts weiß.
Aus den Schilderungen und Dokumenten wird deutlich: Rechte Retter sind keine Ausnahme. Der Rettungsdienst in Deutschland hat ein Problem mit Rassismus und Rechtsextremismus – und kaum ein:e Vorgesetzte-r unternimmt etwas dagegen. Seit dem Flüchtlingssommer 2015 ist die Lage offenbar schlimmer, oder zumindest offensichtlicher geworden. Leidtragend sind der taz-Recherche zufolge vor allem Mitarbeitende mit Migrationshintergrund – und Patient-innen.
Üble Spielchen auf Wache 9
Guido Schäpe, 52 Jahre alt, seit 2003 als Sanitäter auf der Feuer- und Rettungswache 9 in Köln-Mülheim, kann heute nicht mehr sagen, wann genau es anfing. Es waren viele kleinere Dinge, die zusammen ein dunkles Bild ergeben.
Da war der Anti-Islam-Aufkleber auf der Toilette. Der Kollege, der auf der Außenwache gerne die Junge Freiheit las. Die Flyer der „Identitären Bewegung“, die dort auslagen; zwei Mitarbeitende, die aus ihrer Nähe zur rechtsextremen Organisation vor dem Kollegium keinen Hehl machten. Einer der beiden hat schon vor Jahren ein Spiel geprägt, zum Zeitvertreib während der Fahrt. Sie nannten es das „Möp-Spiel“: Immer wenn man eine schwarze Person auf der Straße sieht, muss man „möp“ sagen. Gedanklich wurde dann eine Strichliste geführt. Das alles berichtet nicht nur Schäpe, es bestätigen auch mehrere seiner Kolleg-innen.
Fast 20 Jahre hat Guido Schäpe bei den Johannitern gearbeitet. Er hat sich fortgebildet, war erst Rettungssanitäter, dann Rettungsassistent, und seit 2017 Notfallsanitäter. Das ist die höchste Qualifikation nach dem Notarzt. Guido Schäpe ist ein großer Mann mit breitem Kreuz. Er ist politisch links eingestellt, so sagt er es über sich selbst. Aber noch mehr sagen das seine damaligen Kolleg:innen. Den langhaarigen Bombenleger aus Kreuzberg hätten sie ihn früher scherzhaft genannt. Damit kam er klar. Mit seiner Biografie war er auf der Wache eher der Außenseiter. Er hat jahrelang auf dem linken Musikfestival Fusion mitgearbeitet. Später war er für Sea Watch unterwegs und holte Geflüchtete aus dem Mittelmeer. „Wenn du einmal mit dem Rettungsdienst angefangen hast, dann willst du nie wieder etwas anderes arbeiten“, sagt Schäpe.
Nur habe das, was er mit dem Beruf verbunden hat – Menschen helfen, Leben retten – irgendwann nicht mehr zu dem gepasst, was er im Alltag erlebt habe. Verstärkt aufgefallen sei es ihm ab 2015, 2016, sagt Guido Schäpe.
Das, was manche Kolleg:innen in Köln von sich gaben, wurde eindeutiger, beunruhigender. Einige bekannten sich als AfD-Fans. Andere sprachen schlecht über Geflüchtete oder äußerten Reichsbürger-Parolen.
Und dann stehen im Sommer 2020 plötzlich die Nazi-Größen im Wandkalender. Der taz liegen Fotos davon vor. Es ist auf der Wache kein Geheimnis, wer die Namen eintrug. Mehrere Personen haben den Mann nach taz-Recherchen dabei beobachtet.
Es sind viele kleine Dinge, die zusammen ein dunkles Bild ergeben
Am 11. August 2020 schreibt Guido Schäpe eine Mail an seine Vorgesetzten bei den Johannitern, darunter der Regionalvorstand, der Wachleiter und der Dienstgruppenleiter. Auch die Mitarbeitenden Vertretung ist im Verteiler.
„Liebe Kollegen“, schreibt Schäpe, „leider muss ich euch von erschreckenden Entwicklungen auf der FW 9 berichten. In dem Wandkalender, der im Aufenthaltsraum des Containers hängt, wurden mehrere Geburtstage von Nazigrößen eingetragen.“ Es gebe Zeugen dafür, wer das gemacht habe, aber niemand wolle etwas sagen, aus Angst vor Ausgrenzung. Es gebe eine „Mauer des Schweigens“, es herrsche ein „Klima der Angst“ auf der Feuerwache 9, schreibt er und schildert in der Mail weitere rechte Vorfälle. „Die Leitwerte [der] Johanniter und der Humanismus werden hier mit Füssen getreten.“
Der Regionalvorstand Reinhold Lapp-Scheben antwortet Schäpe am nächsten Tag, die Mail geht auch an den Wachleiter und den Dienstgruppenleiter. „Die derzeit im Raum stehenden Vorwürfe“ verlangten eine „zeitnahe und gründliche Aufklärung“, schreibt der Regionalvorstand. Und: „Als Johanniter können und wollen wir, sollten sich die Vorwürfe erhärten, diese nicht dulden.“ Er bittet um sachdienliche Hinweise. „Wichtig ist, dass wir zeitnah agieren“. Er werde auch mit dem ärztlichen Leiter des Rettungsdienst sprechen, gegebenenfalls müsse ein Rettungswagen außer Dienst genommen werden. Weil man sich von einigen Mitarbeitenden kurzfristig trennen müsse. Er klingt ziemlich entschlossen.
Doch dann eskaliert die Angelegenheit in eine unerwartete Richtung.
Der Regionalvorstand und der Wachleiter bekommen wieder Post, aber nicht von Guido Schäpe. „Betreff: Personeller Konflikt Feuer-/Rettungswache 9“. Unterschrieben haben den Brief 20 von gut 50 Mitarbeitenden der Wache, auch der Dienstgruppenleiter soll darunter gewesen sein, erfährt Schäpe. Formuliert hat das Schreiben offenbar der Mann, der die Namen der Nazis in den Kalender eintrug.
In dem Brief üben die Unterzeichnenden Kritik an Guido Schäpe. Er habe nur im Notarztfahrzeug eingesetzt werden wollen und nicht im Rettungswagen, er habe Wohnungen nicht betreten wollen, aus Angst vor einer Corona-Ansteckung. Dies sorge für „Unmut und Unverständnis bei der Mitarbeiterschaft“. Nachdem Guido Schäpe darauf angesprochen worden sei, heißt es im Brief weiter, habe er „als vermeintliche Ablenkung vom eigentlichen Problem zu einem großen Paukenschlag ausgeholt, indem er einen nicht vorhandenen ‚Rassismus-Eklat‘ ins Leben gerufen hat.“ Man werde es nicht hinnehmen, dass hier „in unerträglicher Art und Weise das Personal der Rettungswache 9 in Verbindung mit vermeintlichem ‚Rassismus‘ gebracht wird“. Guido Schäpe, so die Forderung, solle die Wache verlassen.
Nicht im Brief steht, dass auf der Wache einige Mitarbeitende als Corona-Leugner aufgefallen sind und Schutzmaßnahmen offenbar nicht immer richtig eingehalten wurden. Mehrere Mitarbeiter verbreiten online Querdenker-Parolen, einer bezeichnet Karl Lauterbach in seinem WhatsApp-Status als „Hurensohn“.
Und jetzt? Sollen nicht die rechten Retter gehen, sondern der Mann, der Rassismus und Rechtsextremismus angesprochen hat.
Es kommt zu Treffen auf unterschiedlichen Ebenen, zu 18 Einzelgesprächen mit Mitarbeitenden. „Aber es gab keinen Willen, dass sich was ändert“, sagt Guido Schäpe rückblickend. Der Wachleiter habe ihm empfohlen, die „Umfeldbeleuchtung“ auszumachen, nicht mehr schauen, was die anderen so machen. Und der Dienstgruppenleiter habe ihm nahegelegt, er solle nicht „dauernd in alten Wunden rumdrücken“. So erinnert sich Schäpe.
Der Wachleiter will nicht mit der taz sprechen, der damalige Regionalvorstand der Johanniter, Reinhold Lapp-Scheben, ist nicht zu erreichen, er ist inzwischen in Rente. Die Pressesprecherin der Johanniter Köln antwortet zunächst nur ausweichend auf Fragen. Der Mann, der die Namen in den Kalender geschrieben haben soll, stimmt einem Gespräch mit der taz erst zu, sagt dann aber wieder ab. Als wir ihm Fragen schicken, behauptet er, er wisse nichts von einem Kalender. Er habe mit Nazis nichts zu tun. Er schreibt: „Woher nehmen Sie diese schwachsinnigen Falschinformationen, wer startet hier eine Hetzkampagne?“
Nicht alle Kolleg:innen auf der Wache sehen die Situation so dramatisch wie Guido Schäpe. Der sei als Linker eben angeeckt, sei ein sehr emotionaler Mensch, habe provoziert. Zur Entschuldigung führten manche an: Auch die Geburtstage von Jesus und Stalin seien im Kalender vermerkt gewesen.
Lieber Hetze als Hilfe
Eine Rettungswache an einem anderen Ort in NRW, sie wird vom Malteser Hilfsdienst besetzt, einer weiteren großen Hilfsorganisation in Deutschland. Sie ist katholisch und hat das Motto: „… weil Nähe zählt“. Die Wache liegt in der Nähe eines Wohngebiets, grasfreie Pflasterfugen, Vorstadtidylle. Mehrere Rettungswagen sind hier stationiert, 24 Stunden Bereitschaft, dazu kommen Krankentransporte. Genauer können wir den Ort nicht beschreiben, um unsere Quellen zu schützen.
Die Mitarbeitenden hier kommunizieren in mehreren Chatgruppen, eine hat einen offiziellen Charakter, dort geht es zum Beispiel um Dienstpläne und den Tausch von Einsatzschichten. In einer anderen Gruppe geht es um solche dienstlichen Belange nur am Rande. Diese Chatgruppe konnte die taz einsehen.
Die Kolleg:innen schicken sich dort Fotos und teilen private Veranstaltungstipps. Vor allem machen sie Witze, posten Memes aus dem Internet. Einige davon haben Bezug zu ihrem Job, etwa der Spruch: „Mit der Leitstelle ist es wie mit Frauen. Wenn du glaubst, sie zu verstehen, bist du sicher komplett auf dem Holzweg“. Manche Männer und Frauen aus der Gruppe verschicken sexistische Motive, etwa eine Fotomontage von Greta Thunberg mit riesigen Brüsten.
Und dann sind da die rassistischen Inhalte. Ein Foto von Schwarzen mit Federschmuck, darüber steht, dass Kannibalen in Papua-Neuguinea Flüchtlinge aufnehmen würden und der Satz „Damit ist das Thema gegessen“. Einer verschickt das Foto von einem schwarzen Jungen, mit dem Text: „Das ist Mabuto, sein Schulweg beträgt täglich 3 Stunden. Spende jetzt 5€ und wir kaufen eine Peitsche und wir garantieren, dass der faule N***** es in 8 min schafft“. Das N-Wort ist ausgeschrieben.
Niemand in der Gruppe reagiert darauf. Niemand sagt: Lasst das.
Der Rettungsdienst, das hören wir immer wieder, ist ein hartes Geschäft. Aggressive Patientient:innen, anstrengende Einsätze, schlaflose Nächte. Da braucht man etwas, um sich abzureagieren – deswegen hätten viele im Rettungsdienst einen derben Humor. Nur ist das, was in den Chatgruppen geteilt wird, eben keine harmloses Witzeln mehr.
Der Rassismus beschränkt sich nicht auf die Chatgruppe. Auf der Malteser-Wache werden Mitarbeiter:innen von ihren eigenen Kolleg:innen rassistisch beschimpft, ergibt unsere Recherche. Ein Mitarbeiter, der aus Iran nach Deutschland gekommen ist, wurde als „Kameltreiber“ bezeichnet, eine andere Mitarbeiterin mit Migrationshintergrund als „scheiß Ausländerin“.
Rettungsdienst-Mitarbeitende aus ganz Deutschland berichten von solchen Vorfällen. Eine junge Frau mit Migrationshintergrund, die ein Freiwilliges Soziales Jahr beim Arbeiter-Samariterbund abgebrochen hat, sagte der taz: „Es war die schlimmste Zeit meines Lebens.“ Wie sie sind es oft jüngere Personen, die für Rassismus und Sexismus sensibilisiert sind. Dahinter steht auch ein Generationenkonflikt beim Rettungsdienst: Die Jüngeren sind oft besser ausgebildet, haben aber weniger zu melden, weil sie in dem streng hierarchischen System weiter unten stehen.
Da ist der Sanitäter, der beim Einsatz im Fußballstadion die Spieler eines türkischen Vereins als „Dreckskanacken“ bezeichnete. Da ist der Dienstgruppenleiter, der einem Praktikanten sagte: „Deinen Nachname kann ich eh nicht aussprechen, ab sofort heißt du Isis oder Taliban“. Und da ist der Mann auf der Malteser-Rettungswache in NRW.
Ein Notfall in einem Flüchtlingsheim. Der Rettungsdienst-Mitarbeiter sagt: „Ich würde die Flüchtlinge lieber anzünden, als einem von ihnen zu helfen.“ Drumherum hätte ein knappes Dutzend Kolleg:innen gestanden, so schildert es eine Person, die dabei war. Die meisten hätten gelacht.
Der Landesverband der Malteser in Nordrhein-Westfalen teilt auf taz-Anfrage mit, diese Vorfälle seien auf Landesebene nicht bekannt. Man gehe ihnen „selbstverständlich unverzüglich“ nach. „Wir verurteilen so ein menschenverachtendes Verhalten, generell und insbesondere in unseren eigenen Reihen“, sagt ein Sprecher.
Die Sprüche unter Kolleg:innen sind das Eine. Sie sorgen dafür, dass etliche Sanitäter:innen ihren Job weniger gern machen, besonders natürlich diejenigen, die direkt von rassistischen Bemerkungen betroffen sind. Sie kapseln sich auf der Wache ab, kündigen schließlich vielleicht. Aber dabei bleibt es nicht. Die rassistische Einstellung der rechten Retter hat auch Auswirkungen auf ihre zentrale Aufgabe: verletzten und kranken Menschen helfen. Leben retten. Wer in Not ist, muss dem Personal des Rettungsdienstes vertrauen. Man könnte sagen: Er oder sie ist diesen Menschen ausgeliefert, hat selten Chancen, sich zu wehren, weiß nicht, welche Diagnostik notwendig ist und welche nicht. Wer nicht gut Deutsch spricht, ist in der Not noch verletzlicher.
Werden schwarze, muslimische, eingewanderte Menschen schlechter behandelt als weiße Deutsche?
„Morbus Bosporus“
Es gibt einen Begriff, der in keinem normalen Medizinlehrbuch steht, der im Alltag des Rettungsdienstes aber in vielen Situationen benutzt wird, als sei er ein ganz normaler Fachbegriff: „Morbus Bosporus“. Manchmal ist auch von „Morbus Mediterraneus“ die Rede oder von dem „Südländer-Syndrom“. Manche sagen auch schlicht TMS. „Türke mit Schmerz“. Gemeint ist immer Dasselbe.
Die Begriffe werden verwendet bei Menschen, von denen angenommen wird, dass sie ursprünglich nicht aus Deutschland kommen, sondern irgendwo aus dem Süden, Mittelmeerraum, Naher Osten. Das wird an ihrem Aussehen festgemacht oder schlicht am Namen. Diese Menschen hätten ein anderes Schmerzempfinden – so sehen es offenbar viele im Rettungsdienst. Sie äußerten heftige Schmerzen, obwohl es gar nicht so schlimm sei. Man hält sie für Simulanten.
Wäre der Patient kein Türke gewesen, sondern blond und blauäugig, wäre ihm besser geholfen worden, vermutet ein Insider
Menschen gehen unterschiedlich mit Schmerz um. Es mag Hinweise geben, dass das auch kulturell bedingt ist. Für ihre Arbeit können Rettungskräfte daraus medizinisch begründet allerdings nichts ableiten. Dass es manche dennoch tun, hat Folgen: Patient:innen werden schlechter behandelt, weil die von ihnen geäußerten Beschwerden nicht ernst genommen werden.
So halte es laut Schilderungen aus seinem Umfeld auch der Johanniter-Mitarbeiter, der die Nazi-Geburtstage in den Kalender geschrieben hat. Der Notfallsanitäter sei fachlich nicht schlecht, aber da sei eben seine Einstellung. Er trage stolz ein T-Shirt mit Deutschlandflagge, wenn er eine türkische Flagge sehe, rege er sich auf: „Ich hasse Türken“. Und Einsätze bei Menschen mit Migrationshintergrund seien für ihn oft: „nur Pillepalle“. In Köln-Mülheim leben viele Menschen mit Migrationshintergrund.
Wir bekommen diesen Vorfall geschildert: Ein Patient, der nur türkisch spricht, ist apathisch, kaltschweißig, sehr blass. Das sind durchaus Anzeichen für schwerwiegende Krankheiten. Der Notfallsanitäter sieht das anders, er bleibt während des Einsatzes im Führerhaus sitzen. Der Rettungssanitäter und der Auszubildende müssen alleine raus. Sie rufen die Tochter des Patienten an, damit sie übersetzt. „Wäre der Patient blond gewesen, mit blauen Augen, hätte er den Einsatz sofort übernommen“, sagt ein damaliger Kollege.
„Morbus Bosporus“, immer wieder: „Ich habe den Begriff bestimmt hundertmal gehört“, sagt ein langjähriger Notfallsanitäter, der für das Deutsche Rote Kreuz in Rheinland-Pfalz und Hessen im Einsatz war. Einer aus Niedersachsen sagt: „Jeder im Rettungsdienst kennt diesen Begriff“. Er habe die Bezeichnung sogar schon in Arztbriefen gelesen, berichtet ein leitender Rettungsdienst-Mitarbeiter aus Berlin.
Dass die diskriminierende Pseudo-Anamnese mit Begriffen wie „Morbus Bosporus“ ein Problem ist, hat auch Guido Schäpe in der Mail an seine Vorgesetzten erwähnt. Passiert ist: nichts.
Eine Sprecherin der Johanniter Köln bezeichnet den Begriff auf Anfrage als „absolut inakzeptable Bezeichnung“, die die Gefahr von „unvollständigen diagnostischen Maßnahmen“ berge.
Wie schlimm sind die Folgen für Betroffene, wenn Rettungsdienstmitarbeitende rassistische Vorurteile haben?
Allzu oft lässt sich das nur schwer sagen. Bei Notfallbehandlungen besteht ein gewisser Ermessensspielraum: Legt man nach einem Sturz ein EKG an, weil es eine organische Ursache geben könnte? Lässt man einen Verletzten zum Rettungswagen laufen oder trägt man ihn? Mehrere Rettungsdienstmitarbeiter-innen berichten der taz, dass sie erlebt haben, wie dieser Spielraum bei von Rassismus betroffene Menschen eher weit ausgedehnt wird, und das nicht zu Gunsten der Patient-innen. Wir können zum Schutz der Quellen diese nicht genauer angeben.
Ein weiterer Einsatz der Johanniter in Köln: Eine Frau mit Kopftuch krümmt sich auf der Straße plötzlich unter heftigen Unterleibschmerzen, liegt in Embryohaltung auf dem Boden, Passanten wählen die 112. Aber die Rettungsdienstler nehmen das nicht richtig ernst. Nach dem Einsatz hätten sie Witze gemacht, „über das Kopftuch abgefuckt“ und gemeint, nur wegen der Regelblutung „macht die so ne Show“, dabei sei noch gar nicht klar gewesen, was sie hatte.
Auch auf der Malteser-Wache in NRW berichtet man uns, dass viele Kollegen bestimmten Menschen nicht helfen wollten: „Die haben keinen Bock auf die Behandlung von Geflüchteten.“ Sie würden dann keine richtige Anamnese erheben, keine Vitalparameter, sie würden nicht viel fragen und die Patient:innen nur in den Rettungswagen verfrachten und ins Krankenhaus fahren.
Quelle : TAZ-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Rettungswagen und Notarzteinsatzfahrzeug
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2.von Oben — Feuerwache 9 der Berufsfeuerwehr Köln in der Bergisch-Gladbacher-Strasse.
Verfasser: | G. Friedrich / Quelle : Eigene Arbeit |
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Unten — Zwei Mitarbeiter des Rettungsdienstes mit FFP3-Masken als Mund-Nasen-Schutz, Schutzbrillen und Kittel
Verfasser : © Raimond Spekking /