Ramelows gestörte Kreise
Erstellt von DL-Redaktion am Samstag 20. Mai 2017
Politik zwischen Dörfern und Bratwurstigkeit
Thüringen – Deutschlands erste rot-rot-grüne Landesregierung scheitert an einer Reform der Kreisgebiete.
Schiller hätte über Holger Poppenhäger kein Drama geschrieben. Schiller kam mit 30 Jahren nach Thüringen, um dicke Bretter zu bohren. Seine Figuren sind keine tragischen Minister, sondern tragische Fürsten und Revolutionäre. Seine Themen: Freiheit, Menschlichkeit und Ewigkeit. Der Kontrast zum echten Thüringer Leben – Fachwerk, Vierseithöfe, Dorflinden – sorgte für die nötige Spannung. Rot-Rot-Grün hätte Schiller wohl gefallen.
Poppenhäger kam mit 37 Jahren nach Thüringen, um Politik zu machen. Jetzt ist er 60, Innenminister im Freistaat und drauf und dran, von der Thüringer Kleinheit überrollt zu werden. Der SPD-Mann muss geradestehen für das zentrale Projekt seiner Regierung. Man könnte es „Geopolitik“ nennen, damit es nach mehr klingt. De facto ist es eine Gebietsreform, bei der Kreise neu zugeschnitten und kreisfreie Städte neu ausgewiesen werden sollen.
Doch so was macht im stolzen Thüringen keiner ungestraft. Unter den Dorflinden rumort es gewaltig. Widerborstige Kommunen proben den Aufstand. Es wird immer wahrscheinlicher, dass der Fürst und Revolutionär in der Erfurter Staatskanzlei, der Linke Bodo Ramelow, scheitern wird an der Frage, welcher Weiler unter welches Wappen kommt. Dass damit dann auch Deutschlands erste rot-rot-grüne Koalition, das Traumprojekt für den zukunftsweisenden Politikwechsel, scheitert an der Bratwurstigkeit der Thüringer Verhältnisse. Oder anders gesagt: an ihrer eigenen Unfähigkeit.
Thüringen ist ein Freistaat ohne Bindestrich, dafür mit starker Identität. Thüringen war schon immer wer im innerdeutschen Machtgefüge. Wer hin und her wollte in Europa, musste über die A4. Seit 1.000 Jahren ist das so, könnte man sagen, aber das würde an den AfD-Mann Björn Höcke erinnern, der hier keine Rolle spielen soll. Thüringen wirbt mit Goethe, Schiller und Luther, mit der heiligen Elisabeth und mit den Ahnen der britischen Queen, die auf Thüringer Schlössern heranwuchsen. Es gibt Trutzburgen aus Kaiser Rotbarts Zeiten und zu deren Füßen Städte, die bessere Zeiten hatten und darauf verdammt stolz sind.
Schillers Notizbuch
Und jetzt das: Die Regierung Ramelow will aus 17 Landkreisen zehn machen. Eine Kreisgebietsreform ist keine Umverteilung im sozialistischen Sinne. Es ist ein Prozess, der viele Verlierer kennt und keine wirklichen Sieger. Etliche stolze Städte müssen ihren Kreissitz aufgeben. Stolze Regionen werden mit ihren Nachbarn zusammengekettet zu aufgeblähten Großkreisen. Da kann Innenminister Poppenhäger noch so oft sagen: „Eisenach bleibt Eisenach, Saalfeld bleibt Saalfeld, Arnstadt bleibt Arnstadt.“ Für viele Thüringer steht das ernsthaft in Frage. Die Gründe der Reform sind unerfreulich genug. 2035 werden von derzeit 2,17 Millionen Thüringern nur noch 1,8 Millionen übrig sein. 1990 waren die Thüringer im Schnitt 37,9 Jahre alt, 2030 werden sie bei 51,4 Jahren angekommen sein.
Noch gehört Thüringen zu den dynamischsten Regionen im Osten. Doch was, wenn in 15 Jahren nur noch die Hälfte der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter sein wird? 571 Gemeinden zählen weniger als 1.000 Einwohner. Die blühenden Vorstädte, wo Eigenheimchen neben Eigenheimchen entsteht, saugen nicht nur den peripheren Dörfern das Leben ab, auch den Städten. Umlandkreise voller Schlafsiedlungen vereinigen sich lieber untereinander und schwächen damit Städte wie Arnstadt und Eisenach. Das macht eine verstreute Ämterlandschaft nötig, die schwer zu finanzieren ist. Dass die Reform kommen muss, weiß die Landespolitik seit zehn Jahren, es sind sich auch alle einig – im Prinzip. Ramelows Vorgängerin, die CDU-Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht, hinterließ nach der verlorenen Landtagswahl 2014 ihrer zusammengeschossenen Partei genug Munition, um aus allen Rohren gegen Rot-Rot-Grün zu feuern.
Eine Gebietsreform sieht vielleicht, von außen betrachtet, nach nicht viel aus. Dahinter steckt aber hochdiffiziles politisches Handwerk. Eine Regierung, die eine solche Reform durchziehen will, muss die hohe Kunst des politischen Ausgleichs beherrschen. Eine Gebietsreform kennt nämlich in der Praxis keine Parteiloyalitäten mehr – da ist jeder nur noch Kämpfer für die eigene Scholle. Prozesse dieser Art folgen einer eigenen Dynamik, die die Parteistrategen beherrschen müssen. Man muss einfach wissen, welcher Bürgermeister und welcher Landrat Befindlichkeiten hat, um sie rechtzeitig einzubinden. Man muss wissen, welcher Hinterbänkler das Zeug hat, für sein Heimatstädtchen auf die Barrikaden zu steigen, und ihn rechtzeitig zur Abstimmung zurück ins Glied ziehen.
Eine Regierung, die eine Gebietsreform umsetzen will, muss einen unwiderstehlichen Entwurf präsentieren. Müsste sie. Auftritt Poppenhäger am Dienstag vorige Woche: Nach zwei Entwürfen, die ihm die politische Klasse Thüringens in der Luft zerfetzte, gab sich der Innenminister reuig. „Zwischen erstem und zweitem Kabinettsdurchgang“, sagte Poppenhäger in die Kameras, „kann es immer Änderungen geben.“ Spätestens da hätte Schiller sein Notizbuch zugeklappt. Denn ein Minister, der zu seiner eigenen Arbeit nicht steht, wird zwangsläufig scheitern, und er hat es nicht besser verdient. Er öffnet Tür und Tor für Sonderwünsche. Und die sind zahlreich. Inzwischen ist der Eindruck entstanden, bei der Reform könne jeder noch was rausschlagen, wenn er nur laut genug brüllt.
Quelle : Der Freitag >>>>> weiterlesen
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Grafikquelle : Rennrodel-Weltcup Oberhof 2016-01-17 Bodo Ramelow