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RENTENANGST

Radikales neu sprechen

Erstellt von DL-Redaktion am Mittwoch 26. Juli 2017

Über die Wahrnehmung von Gewalt
und intellektuelle Unterwerfung

SCHLAGLOCH VON CHARLOTTE WIEDEMANN

Die Debatte über Gewalt, wie sie seit dem G20-Gipfel in Hamburg geführt wird, hat einen blinden Fleck. Sie spart nämlich die Frage der Wahrnehmung aus: Für wen ist was wann Gewalt? Eine Antwort darauf zu suchen, ist nicht weniger als der Kern emanzipatorischen Denkens. Dazu drei Anregungen.

Erstens: Die tatsächliche Dimension institutioneller und struktureller Gewalt setzt sich selten in unsere Alltagswahrnehmung um. Deshalb wirkt ein Jean Ziegler, der immer wieder die blanken Zahlen des „Imperiums der Schande“ benennt, die täglich Verhungernden, wie ein Don Quichotte der Weltöffentlichkeit, ein verrückter Sehender, irre in seinem Unbeirrtsein.

Zu enge Sicht

Framing, eigentlich ein Begriff der Medienwissenschaft, prägt unsere Sicht von Gewalt: Wir blicken durch einen zu kleinen Rahmen. In diesem Ausschnitt wirkt, wer sich gegen das große institutionalisierte Unrecht auflehnt, immer falsch, weil der eigentliche Gegner nicht sichtbar ist. Unter westeuropäischen Bedingungen leidet oppositionelle Gewalt dann an einer doppelten Unangemessenheit: Sie ist einerseits zu klein, weil sie den Agenten der institutionellen Gewalt nicht weh tut. Und andererseits zu groß, weil sie die Falschen trifft, die bloßen Statthalter, die Unbeteiligten.

Zweitens: Unser Verhältnis zur Gewalt ist nur psychiatrisch zu verstehen. Wir sind süchtig nach ihr, wir konsumieren Gewalt durch Nachrichten und Unterhaltungsmedien in einem zuvor nie gekannten Ausmaß – und wir tabuisieren sie zugleich.

In jedem Fernsehkrimi geschändete Mädchen, abgeschnittene Finger, Leichen. Obligatorisch die Szene beim Rechtsmediziner, damit wir die Leiche noch mal in Naheinstellung haben, bläuliches Fleisch, gewendet nach allen Seiten. Daneben, wie unverbunden, die Tausenden Toten im Mittelmeer, doppelt unsichtbar, versunken im Meer und nie gehoben über den Level von Verdrängung hinaus. Fast müsste man den Identitären, die im Meer Rettung zu verhindern suchen, dankbar sein: Sie entschleiern die institutionelle Gewalt, machen sichtbar, dass Tod oder Leben eine Folge von Entscheidungen ist.

Wie wir uns nähren am Konsum von Gewalt, mit der wir scheinbar nichts zu tun haben, entblößt gerade ungewollt eine ARD-Eigenwerbung, die solche Sendungen als „schwere Kost“ bezeichnet. Viele Medien lechzen nach Gewalt, und es bleibt im Dunkeln, ob sie ihr Publikum damit erziehen oder nur dessen verborgene Gier spiegeln. Zahllos die Vergewaltigungsfantasien, die in WLAN-Netze von Schrebergartenkolonien eingetippt werden.

Drittens: Es ist eine Mär, dass es in der politischen Auseinandersetzung eine klare Grenze zwischen legitimer und nicht legitimer Gewalt gäbe. Welche Regime unter Einsatz von Gewalt bekämpft werden dürfen, das unterliegt immer dem Kriterium der Opportunität. Jüngstes Beispiel: Venezuela. Die schöne durchtrainierte Steinewerferin wird zur Fotoikone hiesiger Medien; zugleich erkennt das Auswärtige Amt ein formell illegales Referendum der Opposition als „legitimen Ausdruck“ des Wählerwillens an.

Quelle  :  TAZ >>>>> weiterlesen

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Grafikquelle   ;   Polizisten inspizieren das G20-Protestcamp Entenwerder nach der umstrittenen Räumung

 

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