Putins Krieg + die Deutschen
Erstellt von Redaktion am Montag 15. August 2022
Der Schock nach dem Erschrecken
Eine Kolumne von Henrik Müller
Erst schien es, als betreffe uns der Krieg in der Ukraine nur indirekt. Inzwischen wird immer klarer: Wir sind mit einem Epochenbruch konfrontiert. Und an den müssen wir uns anpassen.
Wenn Menschen in Gefahr sind, reagieren sie instinktiv mit Flucht: aufbrechen, wegrennen, überstürzt und in der Not ohne Rückversicherung. Der Exodus von Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern in den vergangenen Monaten unterstreicht dieses Verhaltensmuster. Bloß weg! Und das ist zweifellos vernünftig.
Auch anderswo in Europa sind die Menschen vom Ukrainekrieg betroffen, doch die Bedrohung ist weniger direkt. Preise steigen, Energie wird knapp, eine Ausweitung des Krieges auf Nato-Gebiet hat bislang nicht stattgefunden, ist aber keineswegs ausgeschlossen. Entsprechend überrascht es nicht, dass mancher davon träumt, anderswo Sicherheit zu suchen – in Portugal zum Beispiel, am westlichsten Zipfel Europas, oder wenigstens in der Schweiz, auch wenn’s teuer ist.
Tatsächlich jedoch bleiben die allermeisten, wo sie sind. Bloß weg? Eher nicht. In Deutschland sind wir nicht in unmittelbarer Gefahr. Wir erleben vielmehr eine Phase der Unsicherheit. Darauf reagieren Menschen typischerweise nicht mit Flucht, sondern, ganz im Gegenteil, mit Stehenbleiben: abwarten, nicht handeln, regungslos verharren. Wer nicht weiß, wie es weitergeht, geht nicht weiter. Auch das ist individuell vernünftig.
Aber wenn ganze Gesellschaften nach diesem Muster handeln, wird es problematisch. Stillstand ist keine Lösung.
Wir haben es mit epochalen Herausforderungen zu tun: Der russische Angriff auf die Ukraine ist kein singuläres Ereignis, sondern nur der letzte in einer langen Reihe von Unsicherheitsschocks. Das bisherige 21. Jahrhundert ist von einer Kette von Krisen durchzogen – von den Terroranschlägen des 11. September 2001 bis zum Ukrainekrieg. Aus deutscher Sicht kommen die Beben näher, sie werden häufiger und heftiger. In der Tendenz steigt die Unsicherheit immer weiter an – eine beunruhigende Entwicklung.
Flucht ist keine Lösung, Abwarten auch nicht
Die Weltordnung ist im Umbruch, ein Abgleiten ins Chaos möglich. Westliche Demokratien sind massiv unter Druck, von außen und von innen. Das Weltklima verändert sich schneller als gedacht. Unsere Energiesysteme sind brüchig. Alterung und Schrumpfung der Bevölkerungen stellen unseren bisherigen Gesellschaftsvertrag infrage. Es ist ganz offensichtlich: Wir dürfen nicht stillstehen. Wir sollten mutig vorangehen und tatkräftig, wehrhaft, nachhaltig handeln. Flucht ist keine Lösung, Abwarten auch nicht. Doch die steigende Unsicherheit hat das Potenzial, uns zu behindern, weil sie zum Nichthandeln verleitet.
Unsicherheit ist ein schillerndes Konzept. Wissenschaftler bezeichnen damit Umstände, in denen die Zukunft nicht abschätzbar erscheint. Kleine Unsicherheitsmomente verfliegen rasch. Doch große Schocks haben profunde Auswirkungen, gerade auch für die Wirtschaft: Unternehmen stoppen Investitionsvorhaben, Privatbürger kürzen ihre Konsumausgaben. Unsicherheit verunsichert. Gesellschaften nähern sich unter diesen Bedingungen einem Zustand der Erstarrung. Steigende Unsicherheit führt häufig, wenn auch nicht immer, in eine Rezession – schlimmer noch, womöglich in Stagnation und Passivität.
Wie sich Unsicherheit messen lässt, ist keine einfache Frage. Denn es geht ja gerade um das nicht abschätzbare Ungewisse. Dennoch ist es hochrelevant, wie groß ein Schock ist. Unter Wirtschaftsforschern hat deshalb in den vergangenen Jahren ein Ansatz an Popularität gewonnen, der auf der Analyse von Medieninhalten beruht. Das ist insofern naheliegend, als Bürgerinnen und Bürger vor allem durch Nachrichtenkonsum zu ihren Einschätzungen über den Zustand der Gesellschaft und der Welt insgesamt gelangen.
In diesem Sinne zeigt der »Uncertainty Perception Indicator« (UPI), den unser Dortmunder Forschungszentrum DoCMA berechnet, die mediale Wahrnehmung der ökonomischen Unsicherheit in Deutschland. Mehr noch: Mittels Big-Data-basierter Textmining-Verfahren weist er aus, von welchen Quellen die kollektive Risikowahrnehmung ausgeht. (Details zur Methode und zur Datenbasis finden sich hier .)
Wenn Grün nicht mehr grünt und Rot nicht lohnt, dann folgt schnell Schwarz, welcher sich alle holt !
Nun liegen aktuelle, noch unveröffentlichte Zahlen vor, die Daten bis einschließlich Juli beinhalten. Die Ergebnisse sind einigermaßen alarmierend. Gerade jene Unsicherheitsfaktoren, in denen sich direkte Auswirkungen auf die Wirtschaft widerspiegeln, haben sich zuletzt Rekordniveaus genähert. Der Putin-Schock erscheint inzwischen fast so schwerwiegend wie der Corona-Schock von 2020. Und der löste eine der tiefsten Rezessionen seit Bestehen der Bundesrepublik aus.
Hier, Jetzt und Bald
Zu Beginn des Krieges in der Ukraine war das anders. Zunächst stand das Erschrecken über die Erosion der geopolitischen Ordnung im Vordergrund. Dass ein Angriffskrieg in Europa wieder möglich ist, dass eine Atommacht ein Nachbarland in einer groß angelegten Offensive angreift, dem sie zuvor in einem völkerrechtlichen Vertrag (dem Budapester Memorandum von 1994) die territoriale Unversehrtheit zugesichert hatte, war schockierend genug. Der Unsicherheitsfaktor Geopolitik erreichte im Frühjahr Werte, die in diesem Jahrhundert noch nie für Deutschland gemessen worden waren.
Doch politische Schocks können vorüberziehen, ohne unmittelbare realwirtschaftliche Folgen auszulösen. Solche Ereignisse waren etwa das Brexit-Referendum und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten im Jahr 2016. Dass die beiden großen alten angelsächsischen Demokratien derartige Auswüchse des Populismus hervorbringen würden, bewegte die deutsche Öffentlichkeit massiv.
Die ökonomischen Folgen jedoch waren zunächst kaum spürbar. Sie zeigten sich erst mit langer Verzögerung: Als Trump seinen Handelskrieg begann und später der Brexit tatsächlich Wirklichkeit wurde, hatte dies konkrete Auswirkungen. Aber es fehlte das unsicherheitsstiftende Überraschungsmoment; man konnte sich vorbereiten.
Quelle : Spiegel-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Der stille Mapourika Lake in Neuseeland