Psychoanalytische Sicht
Erstellt von Redaktion am Mittwoch 13. Mai 2020
zu „natürliche Menge versus gefährliche Masse“ in Corona-Zeiten
Eine Betrachtung von Stefan Weinert
ganz aktuell (Mai 2020) bilden sich Gruppen von Menschen, die auf der Strasse und in den sozialen Medien gegen die – aus ihrer Sicht – Beschneidung ihrer Menschenrechte, gegen einen – aus ihrer Sicht – totalitär werden (und eigentlich schon immer so seienden) Staat und für die strikte Einhaltung des Deutschen Grundgesetzes, kämpfen, streiten, rebellieren und demonstrieren. Und das, obwohl es mitten in einer epidemiologisch geschwängerten Zeit ein gefährliches Vabanquespiel ist. Sigmund Freud würde diese Gruppierungen nicht mit „natürlicher Menge“ bezeichnen, sondern mit „künstlicher Masse“. Bei den unterschiedlichsten Merkmalen von „Massen“ stellte Freud gerade das „Künstliche“ (nicht Künstlerische) hervor. Zu seiner Zeit .nannte er als Beispiel für letztere die Kirchen und das Heer. Diese künstlichen Massen bedürfen eines bestimmten und dauerhaften Zwanges, um zusammen gehalten zu werden.
Die Zugehörigkeit zu einer künstlichen Masse verspricht dem einzelnen Mitglied (Individuum?) Zugänglichkeit zu bisher verschlossenen aggressiven und libidinösen Triebbefriedigungen. Gleichzeitig aber sind jene Massenmitglieder für rationale Einwände taub und nicht – im Gegensatz zum Einzelnen – für die „Couch“ zu gewinnen, auf der sie bereit wären, analytische Bemerkungen zu ihrer Person zuzulassen und selbst über ihr Inneres selbstkritisch zu reden.
Durch ihren im wahrsten Sinne des Wortes „besinnungslosen“ Aktionismus gefährdet sich die Masse aber auch selbst. Der Vergleich mit den animalischen Lemmingen, die gemeinsam zu den Klippen wandern und sich dort gegenseitig in die Tiefe stoßen, ist keinesfalls abwegig. Dieses Bild ist dramatisch und so in den Jahren 1933 bis 45 beim „arischen homo sapiens“ geschehen. Keiner von uns kann bei der Ungleichförmigkeit des Bewusstseinszustandes der heute lebenden Menschheits-Menge (7,5 Milliarden .- 1933: 2,1 Milliarden) absehen, welche „Massenbewegungen“ es zukünftig geben wird.
Eine Massenbildung hat immer eine inner seelische Verhaltensveränderung sowohl des Massenmitgliedes als auch der Masse selbst zur Folge und sie ist stark mit der Rolle eines Führers und/oder mit der entsprechenden tragenden Idee verknüpft. Die Mitglieder dieser Massen werden mit ausgeklügelten Propagandatechniken in einer affektiven und ängstlichen Dauerspannung gehalten womit verhindert wird, dass das psychische Bindemittel gemeinsamer Affekte erkaltet und an Kraft verliert. Freud meinte bereits 1921 (!) „Wenn eine andere Massenbindung an die Stelle der religiösen tritt, so wird sich die gleiche Intoleranz gegen die Außenstehenden ergeben, wie im Zeitalter der Religionskriege … würde sich das Resultat … wiederholen.“
Die hoch organisierte künstliche „Masse“ schart sich um einen Führer oder um eine Idee. Die Mitglieder der Masse sind der Illusion und des Glaubens verfallen, es gäbe da einen wirklich existierenden charismatischen Führer, der jeden einzelnen mit gleicher Liebe liebt. An dieser Illusion aber hängt alles. Ließe man diese Illusion fallen oder verlöre sie, würde sich die Masse – vorausgesetzt die äußeren Umstände erlauben es – sofort auflösen.
Bei den eher unorganisierten spontanen Massen ist die Gefahr in den Zerfall von „Mengen“ am stärksten. Hier bedarf es immer wieder erheblich taktischen Geschicks und Stimulanz, um der affektive Erschöpfung der Massen entgegenzuwirken und sie abzuwenden.
„Vernunft führt niemals zur Masse, sondern sie führt zur umfangreichen Menschlichkeit.“ (emanon)
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Grafikquelle :
Oben — Demonstration gegen die Einschränkung von Grundrechten in Memmingen