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Pierrick als Rädelsführer

Erstellt von DL-Redaktion am Mittwoch 13. Februar 2019

Prügelnde Polizisten und gnadenlose Richter

2018-12-08 Gilets jaunes acte 4.jpg

von Raphaël Kempf

Viele Gelbwesten sind das erste Mal auf die Straße gegangen. Die polizeilichen und juristischen Repressionen gegen sie folgen einer Strategie der Einschüchterung – teilweise mit Erfolg.

Am 14. Januar übertraf sich der französische Innenminister Christophe Castaner selbst: „Mir sind keine Polizisten bekannt, die Gelbwesten angegriffen hätten; Polizisten, die sich gegen Gelbwesten verteidigt haben, kenne ich hingegen schon“, verkündete er bei einem Besuch in der südfranzösischen Stadt Carcassonne.

Über solche Sätze kann Antonio Barbet nur lachen. Der 40-Jährige lebt in der Nähe von Compiègne im Dé­parte­ment Oise, wo er noch vor zwei Monaten auf Mindestlohnbasis als Leiharbeiter in der Kundenberatung gearbeitet hat.

Seit Beginn der Bewegung der Gelbwesten hat sich Barbet an den Protesten beteiligt. Am 24. November demonstrierte er das erste Mal in Paris. Am späten Nachmittag feuerten die Sicherheitskräfte in einer bis dato ruhigen Straße unweit der Champs-Élysées ein Geschoss ab, wahrscheinlich eine Tränengasgranate vom Typ GLI-F4. Sie explodierte auf Barbets Fuß. Zwei Monate n ach dem Zwischenfall geht er immer noch an Krücken, sein Zeitarbeitsvertrag wurde nicht erneuert.

Der Journalist David Dufresne dokumentiert auf Twitter sorgfältig alle Übergriffe der Polizei auf Gelbwesten. Bis zum 19. Januar – dem Tag der landesweiten Demonstrationen des „zehnten Akts“ – hatte er schon mehr als 330 durch Bilder belegte Zwischenfälle gesammelt.

Bereits 2007 beschäftigte sich Du­fresne in einem Buch mit dem Thema.1 Darin erinnert er auch an die Ausführungen des ehemaligen Innenministers Dominique de Villepin über die Strategie des Staats, Demonstranten auf Abstand zu halten. Diese sei „Teil des französischen Selbstverständnisses“, hatte Villepin verkündet. Knapp zehn Jahr später kritisieren Forscher jedoch die staatliche Ordnungspolitik, die im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern nicht auf Dialog und De­es­ka­la­tion, sondern vor allem auf Repression setzt.2

In einem Bericht vom Dezember 2017 rief Jacques Toubon, der offi­ziel­le „Défenseur des droits“3 , die tradi­tio­nellen Prinzipien dieser Ordnungspolitik in Erinnerung. Nur gemeinsam und auf Befehl dürfen die Spezialkräfte – die Compagnies Républicaines de Sécurité (CRS) und die Bereitschaftsgendarmerie (Gendarmerie mobile) – Gewalt anwenden.

Auf eigene Initiative darf Gewaltanwendung lediglich aus Notwehr erfolgen und muss die Grundsätze der „absoluten Notwendigkeit, allmählichen Steigerung und Reversibilität“ befolgen. Nichtspezialisierte Einheiten wie die Compagnies de Sécurisation et d’Intervention (CSI) und die Brigades Anti-Criminalité (BAC), die bei Bedarf zur Verstärkung anrücken, stellen dieses Schema allerdings infrage. Denn diese Einsatzkräfte, so der Bericht, seien „in der Regel nicht gemäß der Doktrin und der Prinzipien der Ordnungserhaltung ausgebildet“. Sie setzen auf Verhaftungen und körperlichen Kontakt, wodurch der Grundsatz von ­Distanz und Kontrolle untergraben werde.

Da dieser Entwicklung eine politische Entscheidung zugrunde liegt, lässt sich Antonio Barbets Fußverletzung nicht als Unfall abstempeln – ebenso wenig wie die über 100 schweren Verletzungen und Verstümmelungen, vor allem im Bereich der Augen und der Hände, die seit Beginn der Gelbwestenproteste dokumentiert wurden.

In einem gemeinsamen Bericht aus dem Jahr 2014 weisen die Generalinspektionen der Polizei (IGPN) und der Gendarmerie (IGGN) darauf hin, dass Frankreich als einziges Land Europas Explosivstoffe zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung einsetzt. Dazu zählen insbesondere die Tränengasgranaten des Typs GLI-F4: „Die Vorrichtungen, die durch Explosivstoffe eine Druckwelle erzeugen, können Verstümmelungen oder tödliche Verletzungen herbeiführen; und jene mit lauten Geräuscheffekten irreparable Gehörschäden.“4

Sandrine geht mit Taucherbrille auf die Demo

Da es sich um pyrotechnische Vorrichtungen handelt, ließen sich Kopf- oder Gesichtsverletzungen nie komplett ausschließen, so der Bericht. Der Staat setzt die Demonstranten also in vollem Wissen diesen Risiken aus. Ende 2018 forderten mehrere Anwälte, unter ihnen auch der Autor dieses Artikels, Innenminister Castaner und Premierminister Édouard Philippe schriftlich dazu auf, die besagten Granaten zu verbieten. Eine Antwort blieb bis heute aus.

Die seit Mitte November tausendfach aus „Lanceurs de Balles de Dé­fense“ (LBDs) abgefeuerten Hartgummigeschosse dienen angeblich der „Gefahrenabwehr“. Dass diese Bezeichnung zumindest euphemistisch ist, zeigt ein Urteil des Oberverwaltungsgericht Nantes vom 5. Juli 2018. Demnach trug der Staat die Verantwortung für die Verwendung dieser „gefährlichen“ Waffe auf einer Demonstration im Jahr 2007. Damals verlor ein 16-Jähriger durch ein LBD-Projektil ein Auge. Er bekam nun ein hohes Schmerzensgeld zugesprochen.

Im Dezember 2017 bewertete ­Jacques Toubon LBDs erstmals als „ungeeignet zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“. Sie sollten deshalb „aus der Ausstattung der Sicherheitskräfte entfernt werden“ – eine Forderung, die er im Januar dieses Jahres erneuerte. Diese Erinnerung hätte eigentlich nicht notwendig sein dürfen, schließlich hatte der Pariser Polizeipräsident dem „Défenseur des droits“ 2017 versichert, „die Nutzung von LBDs des Kalibers 40 x 46 aufgrund ihrer Gefährlichkeit zu verbieten“. Ein Entschluss, der offenbar ohne Folgen blieb.

Hunderte Verletzungen aufseiten der Gelbwesten lassen sich auf LBDs und deren mitunter falsche Handhabung durch die Sicherheitskräfte zurückführen. Viele Demonstranten, unter ihnen zahlreiche Protestneulinge, sind deswegen wütend. Man kann sich fragen, ob der französische Staat mit seinem Festhalten an diesen Waffen nicht bewusst auf eine Strategie der Abschreckung setzt.

Sandrine P. besetzt seit Beginn der Gelbwestenproteste einen Kreisverkehr zwischen Douai und Valen­ciennes, ­unweit ihres Wohnorts. Sie ist Ende dreißig und arbeitet als Tagesmutter. Zusammen mit ihrem Mann, der als Verkäufer in einem Supermarkt angestellt ist, hat sie drei Kinder. Durch die Gelbwesten hat sie gelernt, was kol­lektives, politisches Engagement bedeutet.

Auf einer Demonstration in ­Lille Anfang Januar wurde sie erstmals selbst Opfer von Polizeigewalt. Sie trug keine schweren Verletzungen davon, aber vom Tränengas gereizte Augen und die für sie neue Erkenntnis, dass die Sicherheitskräfte auch zur Bedrohung werden können. Am 12. Januar fuhr sie wieder nach Lille, ausgerüstet mit einer Taucherbrille, einer Atemschutzmaske und mehreren Ampullen mit Kochsalzlösung.

Quelle     :          Le Monde diplomatique        >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen       :

Oben     —      Paris, 08/12/18 – Gilets jaunes „acte 4“ Gaz lacrymogène. // Tear gas

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