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Pflege – Missmanagment

Erstellt von Gast-Autor am Freitag 8. November 2013

Missmanagment heisst die Krise

Die Pflegeversicherung muss reformiert werden! Kein Zweifel. Aber nicht so, wie  Politik und Finanzindustrie sich das vorstellen.

Im Denken der Politiker und  von sogenannte Pflege-Experten haben sich Irrlehren über die richtige Führung von Pflegeeinrichtungen und über eine menschenwürdige Finanzierung der Pflege festgesetzt. Interessant daran ist, dass die Politik und die Träger und Betreiber von Pflegeeinrichtungen auf Vorstellungen hereingefallen sind,  die auf Irrlehren beruhen. Die Träger und Betreiber von Pflegeeinrichtungen  sind gewissermaßen auf sich selbst hereingefallen. Zum Schaden und Nachteil von einigen Hunderttausend Pflegerinnen und Pflegern und zum unsäglichen Leid von Millionen Pflegebedürftigen. Wir haben es hier mit einem inhärent destruktiven Prozess zu  tun. Man kann im Grunde sagen, dass die Betreiber und Träger von Pflegeeinrichtungen, die jetzt in Schwierigkeiten sind,  Opfer ihrer selbst geworden sind. Sie verloren jeden Bezug zur Realität. Sie wurden zu Opfern der Anwendung der von ihnen selbst ersonnenen Theorien. Phänomene dieser Art sind relativ gut erforscht. Solche Menschen sind sozusagen in ein selbstreferenzielles Gestrüpp geraden. Sie haben sich selbst verstärkende, sogenannte negative oder positive Regelkreise erzeugt, wie das in der Kybernetik genannt wird. Solche Regelkreise wirken sich aber alles andere als positiv aus. Sie schaukeln sich auf und verstärken sich gegenseitig, bis es zur Explosion oder zum Kollaps kommt. So entsteht ein Schaden an der gemeinsamen Sache, der kaum noch zu reparieren ist.

Was von solchen „Experten“ zu halten ist, die ihre fehlgeleiteten Theorien  an die Stelle von Realitäten setzen,  mag jedes Mitglied unserer Gesellschaft sich selbst ausmalen. Das Ergebnis hier ist jedenfalls ein schwerwiegender Schaden für die Pflegeversicherung und für alle Menschen, die von ihr abhängen – es ist ein Schaden sowohl in praktischer und ideeller als auch finanzieller Hinsicht.

Wir haben solche Prozesse, die in selbstreferenzielle Dickichte führen und sich selbst verstärkende Regelreise erzeugen, schon öfter beobachten können. Etwa bei der Sozialdemokratie, als Schröder, Clement, Steinbrück, Steinmeier und Konsorten, sich darin verirrten, neoliberalen und turbokapitalistischen Denkweisen zu folgen. Die Folge ist eine SPD, die ihren Status als Volkspartei verloren hat und nahezu zu einer Splitterpartei verkommen ist.

Wir können solche Prozesse auch bei den Medien beobachten. Denn auch die Medien, und hier insbesondere die Wirtschaftsredaktionen, sind – vor allem in den Jahren zwischen 2002 und 2009 – den Irrlehren neoliberaler Wirtschaftsprofessoren verfallen und haben diese Irrlehren unter ihre Leserschaften verteilt. Die Folge: Heute glaubt den Medien kaum noch jemand, und immer mehr Redaktionen schließen ihre Pforten.

Zur Zeit ist das Geld der Pflegeversicherten  zum Beutegut unkontrollierter privater und wohlfahrtlicher Gewinnsucht geworden. Die Privatisierung dieses sensiblen gesellschaftlichen Bereichs verstärkt das Leiden der betroffenen Menschen. Wo Eigennutz bestimmend wird, unterliegt Sitte und Ehrlichkeit.  Bei einem Personalabgleich beispielsweise, den der Medizinische Dienst (MDK) vor einiger Zeit in 22 Pflegeeinrichtungen durchführte, stellte sich heraus, „dass in 18 Einrichtungen die vom MDK festgestellte personelle Besetzung im Pflege- und Betreuungsbereich nicht mit den in die Pflegesätze einkalkulierten Personalzahlen und –kosten übereinstimmte“. Teilweise wurden bis zu zehn Personen mehr angegeben, als tatsächlich beschäftigt waren. Eine Pflegeeinrichtung macht auf solch korrupte Weise einen „Wíndfall-Profit“ von bis zu 400.000 Euro pro Jahr.  Nach Berechnungen des Bundes der Pflegeversicherten versanden jährlich allein im stationären pflegerischen Bereich 2, 8 Milliarden Euro. Dieser immensen Summe, dem Geld der Pflegeversicherten, steht nachweislich keine pflegerische Leistung gegenüber. Nicht Erhöhung der Einnahmeseite ist somit vorrangiges Ziel, sondern gründliche Diagnose, Transparenz und rechtlich sanktionierbare Verantwortung der Akteure in der Pflege.

Dabei ist  der Rahmen der Pflegeversicherung, das Pflegeversicherungsgesetz und die Finanzierung, stabil. Das Pflegeversicherungsgesetz (SGB XI) und seine Ergänzung, das Pflegequalitätssicherungsgesetz (PQSG), ist, sieht man von einigen Schwächen ab, ein sicheres Fundament für eine qualitativ hochwertige Pflege.

Warum aber trotzdem die Krise in der Pflege?

Es spricht einiges dafür, dass die wirkliche Krise – oder besser, der schwierigere Teil dieser Krise – noch bevorsteht. Was zur Zeit als Krise bezeichnet wird, ist meines Erachtens ihr Anfang. Es sind jene ersten Schwierigkeiten, die aus den Anfängen der Pflegeversicherung resultieren, also seit 1995, die bisher nicht überwunden wurden. Wenn also von einer Krise die Rede ist, dann ist sie bei den Trägern und Betreibern von Pflegeeinrichtungen angelegt, dann ist sie im Missmanagement zu finden, im miserablen Organisationsverständnis der Akteure, die die Pflegeversicherung derzeit kontrollieren. Es ist die Krise jener, die ihre Kosten nicht unter Kontrolle haben. Es ist die Krise von Akteuren sowohl der Praxis als auch der Politik, die in gewisser Weise „undermanaged“ sind, und die die Inhalte des Pflegeversicherungsgesetzes (SGB XI) missachten. Es ist die Krise genereller Verirrungen, die die Pflege seit achtzehn Jahren begleiten.

Nur so ist es zu verstehen, dass etwa 10 Prozent der Pflegeeinrichtungen eine so miserable Pflege anbieten, dass ihre Bewohner ihr Leben riskieren. Fachleute sprechen von „gefährlicher Pflege“. Rund 50 Prozent arbeiten bestenfalls „mangelhaft“ bis „ausreichend“. Nur 10 Prozent pflegen „gut“. Pflegeskandale sind keine Einzelfälle, sondern weisen auf strukturelle Defizite in der Pflege hin – und auf Missmanagement, das die Pflege in diese skandalöse Krise geführt hat.

In deutschen Pflegeheimen siechen pflegebedürftige Menschen leise und ungehört vor sich hin. Sie warten auf ihre Erlösung, sie warten auf ihren Tod. Ihr Leben? – Ein nicht enden wollendes Martyrium!

Die menschenrechtswidrige Realität in Pflegeeinrichtungen ist dem Gesundheitsministerium durchaus bekannt, sie hat sie beschrieben und veröffentlicht:

Erschütternde Missstände in der Pflegepraxis
Falsch oder nicht ausreichend ernährte Bewohner
Nicht ausreichend mit Getränken versorgte Bewohner
Wegen unsachgemäßer Pflege an Dekubitus leidende Bewohner
Durch unverantwortliche Medikamentation ruhig gestellte Bewohner
Fehlen ausreichender Pflegeprozessplanung
Keine Rücksichtnahme auf die noch vorhandenen Ressourcen und Fähigkeiten der Bewohner
Ernährung über Magensonden
Versorgung mit Windeln anstelle des Ganges zur Toilette.

Die Kritik der Bundesgesundheitsministerin wird allerdings vollinhaltlich erst wirklich dramatisch, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich hinter jedem einzelnen Mangel strafrechtlich relevante Sachverhalte verbergen. Und zwar die Sachverhalte der „unterlassenen Hilfeleistung“, der „Körperverletzung“ (§ 223 StGB), der „Gefährlichen Körperverletzung“ (§ 223 a StGB), der „Misshandlung von Schutzbefohlenen“ (§ 223 b StGB), der „Körperverletzung mit Todesfolge“ (§ 226 StGB), der „Fahrlässigen Körperverletzung (§ 230 StGB), der „Freiheitsberaubung“ (§ 239 StGB) und anderer mehr. So berichten Rechtsmediziner immer häufiger über unsachgemäße tödliche Pflege. „Mord und Totschlag in Pflegeheimen“ könnte ein Titel der Medien lauten. Die Kosten, die der Gesellschaft, den Beitragszahlern der Pflegeversicherung, auf diese Weise entstehen, dürften allein hier einige Milliarden Euro und mehr betragen.

Mit der Pflegeversicherung hat all das wenig zu tun. Viel dagegen mit einem erschreckenden Desinteresse der Träger und Betreiber an nachprüfbaren und kontrollierten Pflegestandards. Bei den Politikern, die letztlich entscheiden, ist es völliges Unwissen und das Gefangensein in selbstreferentielles gedankliches Gestrüpp. Missmanagement heißt die Krise!

Die Pflegeversicherung hat die schlechte Pflege nicht provoziert, sondern aufgedeckt. Tatsächlich konnten Pflegeeinrichtungen bis zum Inkrafttreten des SGB XI nahezu unkontrolliert schalten und walten. Das war vor der Einführung der Pflegeversicherung so. Das hat sich nach ihrer Einführung nicht geändert. Es gibt keine Kontrolle. Und es gibt keine Korrelation zwischen gut und teuer. Es gibt preiswerte gute Heime und schlechte teure. Pflegefehler sind deshalb auch nach Ansicht der Autoren des „Dritten Altenberichts“ der Bundesregierung nicht etwa die Folge von zu wenig Geld, sondern „eindeutig Organisationsverschulden des Trägers. Es gibt in Deutschland keine Pflegesätze, die es nicht erlauben würden, für eine angemessene Grundpflege, für ausreichendes Essen und Trinken sowie Hilfe beim Toilettengang zu sorgen“.

In Deutschland streben machtvolle Interessengruppen eine privatisierte, kapitalgedeckte Pflegeversicherung an. Vergessen wird dabei, dass alle Versicherungen von privaten Personen generiert werden, sie werden nur unterschiedlich verwaltet: Öffentlich-rechtlich bzw. privat. Ferner sind die Leistungen, die von Arbeitgeberseite kommen,  teuer erkauft worden – mit dem Verlust des Buß- und Bettages. Zu dem wird eine Umstellung der Pflegeversicherung vom solidarischen Umlageverfahren auf eine kapitalgedeckte private Absicherung die Krise in der Pflege nicht beheben, sondern verschärfen. Alle Erfahrungen der vergangenen zwanzig Jahre mit Privatisierungen, beginnend mit der Einführung des privaten Fernsehens und (noch nicht) endend mit der Privatisierung des Gesundheitswesens, sprechen eine deutliche Sprache.  Gesundheit und Pflege werden zur Ware. Sie verkommen zu Dingen, die von Krämerseelen gehandelt  und von gierigen Konzernen organisiert werden. Unsere Gesellschaft muss sich entscheiden, welchen Weg sie gehen will.

In der Pflege haben wir es folglich nicht mit einer Krise der Pflegeversicherung zu tun, sondern mit einer Krise des Managements. Die Rahmenbedingungen sind gut. Die Krise ist anders. Sie ist aus Irrtümern und Irrlehren entstanden. Falsche Vorstellungen über Qualifikationen, Qualitäten, Transparenz, Glaubwürdigkeit und Ehre haben wichtige und große Teile der Gesellschaft, der Politik und der Medien erfasst – glücklicherweise nicht alle.

Trotzdem oder gerade deswegen ist es nun an der Zeit, eine „Pflegeprüfverordnung“ in Kraft zu setzen. Diese Verordnung enthält ein geeignetes Kontrollinstrumentarium – und liegt seit Jahren in den Schubladen qualifizierter Staatssekretäre im Gesundheitsministerium. Sie kann, wenn sie aus der Schubladengefangenschaft befreit ist, dazu beitragen, dass „Inhalt und Organisation der Leistungen von zugelassenen Pflegeeinrichtungen eine humane und aktivierende Pflege unter Achtung der Menschenwürde gewährleisten“. Sie ist ein geeignetes Instrument, ein effizientes und auf Kosten, Leistung und Transparenz getrimmtes Pflegesystem zu schaffen. Zu dem ließe sich endlich prüfen, ob „die den zugelassenen Pflegeeinrichtungen anvertrauten pflegebedürftigen Menschen nach dem allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse gepflegt, versorgt und betreut werden“. Die Pflege-Prüfverordnung kann sicherstellen, dass „die gesetzlich vorgeschriebene und vertraglich vereinbarte Leistungsqualität eingehalten wird“. Zweck der Verordnung ist es ferner, „die Einrichtungsträger in ihrer Verantwortung für die Qualität der Leistungen ihrer Einrichtungen einschließlich der Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität zu stärken“ sowie die Transparenz von erbrachter Leistung und angemessenen Kosten herzustellen.

Das Problem heute ist Unkenntnis vom richtigen Management. In Ermangelung einer soliden Ausbildung –  die durchaus möglich ist –  und daher des Fehlens von Standards, fällt es Politikern, Pflegemanagern, Trägern und Betreibern von Pflegeeinrichtungen schwer, richtiges von falschem Management zu unterscheiden und gutes von schlechtem. Gegen diese Arroganz, Dummheit und Unbelehrbarkeit ihres Managements kämpfen die Pflegerinnen und Pfleger, die direkt am Menschen arbeiten, verzweifelt – doch bisher vergeblich- an.

Dass derzeit in der Pflege von gewissen Elementen ein Kopfgeld von fünf Euro, der sogenannte „Pflege-Bahr“ ausgedacht wurde, ist Beleg dafür. In Anlehnung an Kant’s Wahlspruch der Aufklärung könnte man vielleicht sagen: „Habe Mut, Dich des verfügbaren Wissens über richtiges Management zu bedienen um in der Pflege Korruption und Scharlatanerie und tödliche Pflege auszumerzen und das Geld der Pflegeversicherten endlich in transparente und effiziente Bahnen zu lenken.

Wenn hier also Mut oder gar Kühnheit zur Reform verlangt wird, dann ist nicht die bloße Reform der Pflegeversicherung gemeint, sondern einerseits die Reform in den Köpfen der Akteure, die mit der Pflege befasst sind oder sich befassen, und andererseits die in den Köpfen derer, die darüber entscheiden oder berichten.

Gerd Heming (Vors.), Münster

OktoberNovember 2013

Bund der Pflegeversicherten e.V.

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Fotoquelle: Wikipedia
Source     It’s all about love
Author     Candida Performa

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