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Paris, gehäutete Stadt

Erstellt von DL-Redaktion am Freitag 8. April 2022

Präsidentschaftswahlen in Frankreich

Aus Paris von Dorothea Hahn

Vor den Präsidentschaftswahlen in Frankreich zeigen sich die Linken gespalten und die Rechtsradikalen ohne Scham. Präsident Macron sieht sich als Sieger.

Wir haben gar keine Wahl“, sagt meine frühere Nachbarin. Sie hat ihr Leben lang für die Sozialisten gestimmt und wollte schon vor Jahren eine Frau im Élysée-Palast haben. Aber jetzt ist sie enttäuscht. An der Spitze Frankreichs habe die Partei nicht genug für die kleinen Leute getan. Und das Rathaus von Paris habe die Stadt „verkommen“ lassen. Mit 89 Jahren wechselt Edith Roizman die Seiten. Sie hat sich für die Wahl von Emmanuel Macron entschieden, weil er „jung und superintelligent“ ist, und obwohl ihm „Stimme und Statur fehlen“.

Wir rühren in unseren Teetassen auf der Terrasse desselben Lokals, in dem wir schon vor Jahren gesessen haben. Edith trägt ihr Haar immer noch in einem geflochtenen Zopf, der sich ihren Rücken hinunterschlängelt. Es ist nur dünner geworden. Ich schwärme von der Verkehrsberuhigung auf den Pariser Boulevards, von verengten Fahrbahnen, verbreiterten Trottoirs und Hunderten Kilometern neuer Radwege. Als ich Paris vor zwölf Jahren verlassen habe, hätte ich mir nicht ausmalen können, dass dies einmal eine Radfahrerstadt werden würde.

Für Edith ist das Bild der Gegenwart düster. Sie klagt über aggressive Rad- und Rollerfahrer, über schwere Unfälle, über mangelnde Disziplin auf den Straßen und darüber, dass sie kaum noch mit dem Taxi zu einem Restaurant in der Innenstadt kommt, weil die Straßen gesperrt sind und die Stadt eine einzige Baustelle geworden ist. „Die Spinnerin im Rathaus macht uns das Leben schwer“, sagt sie über Anne Hidalgo. Die sozialistische Bürgermeisterin von Paris ist eine von zwölf KandidatInnen für den Élyséepalast.

Menschen wie Edith haben Paris für mich zu einem Zuhause gemacht. Als wir uns kennenlernten, legte sie einen Brief in meinen Kasten, der erzählte, wie sie als Kind in einer christlichen Familie auf dem Land überlebte, nachdem ihre Mutter deportiert worden war. Später, als ein wütender Ex auf Rache sann, warnte sie mich telefonisch, wenn er um den Block schlich. Nach meinem Umzug nach Washington schickte sie mir jahrelang immer am 7. jeden Monats eine E-Mail über das Leben in unserer Straße im Osten von Paris. Der 7. war der Tag meines Umzugs. An dem förmlichen „Sie“ – verbunden mit meinem Vornamen – hält sie fest.

Edith rät davon ab, nach Paris zurückzukommen: „Zu unbeweglich. Zu schmutzig. Zu gefährlich.“ Sie empfiehlt Berlin

Edith ist eine eingefleischte Pariserin. Sie hat zu jeder Straßenecke eine Geschichte und sie ist überzeugt, dass sie die Stadt „nie“ verlassen wird. Ausgerechnet sie rät mir davon ab, nach Paris zurückzukommen: „Zu unbeweglich. Zu schmutzig. Zu gefährlich.“ Dann fügt sie hinzu: „Wenn ich jünger wäre, würde ich nach Berlin gehen. Das ist lebendiger.“

Paris war schon ein Freilichtmuseum, als ich Mitte der 1990er Jahre dorthin zog. Eine Insel des Wohlstands, umgeben von einer in Teilen bitterarmen Banlieue, die direkt jenseits des Périphérique – des Autobahnrings – beginnt. Um die Pariser Bourgeois bei Laune zu halten, verzichtete der damalige konservative Bürgermeister Jacques Chirac auf eine Hundesteuer. Pro Quadratmeter Blumenbeet in den Parks stellte er mehr Geld zur Verfügung als jeder andere Rathauschef der Welt.

Seine sozialistischen Nachfolger bedienen eine jüngere, aber ebenfalls wohlhabende Klientel: Bobos – Bourgeois Bohémiens. In den neuen Parks, wachsen Obstbäume und Weinreben. Mit ihrer Stadtpolitik nehmen die Sozialisten die Luftverschmutzung und Autos ins Visier. An den durchsichtigen Plastikmüllsäcken, die wie benutzte Pariser in ihren Halterungen hängen, haben auch die Sozialisten festgehalten. Sie tauchten erstmals nach den Anschlägen von 1995 auf. Angeblich halfen sie, frühzeitig Bomben zu erkennen. Seither sind neue Attentate und ein neues Design für die Aufhängung dazugekommen. Die „Motocrottes“ hingegen, die Motorräder mit Staubsaugern auf dem Rücksitz, die Hundehaufen aufsammelten, sind verschwunden. Hundehaltern, die den Dreck nicht mitnehmen, drohen jetzt Geldstrafen. Allerdings setzt außerhalb der Innenstadt niemand diese Regel durch. In den östlichen Arrondissements ist Paris ein Hundeklo geworden.

Für die fünf Gelbwesten, die an diesem Sonntag im März auf den Platz der République in Paris gekommen sind, ist der Zustand der Straßen und der Ausbau der Radwege in der Hauptstadt ein Luxus, mit dem sie keine Zeit verlieren. Sie kommen aus der Provinz, aus Orten, in denen es keine Bäckerei, keine Apotheke und kein Café mehr gibt und deren Bahnstationen stillgelegt worden sind.

2018 haben sie angefangen, Straßenkreuzungen zu blockieren, um gegen Niedriglöhne und hohe Lebenshaltungskosten zu protestieren. Aber die Verschlechterung ihrer Lage konnten sie nicht aufhalten. Im zurückliegenden Winter hat eine der fünf, die ehemalige Putzfrau Bibiche, ihre Heizung abgestellt, weil ihre Rente nicht für das Öl reicht. „Ich schalte nur noch an, um das Duschwasser zu erhitzen“, sagt sie.

Gelbwesten wollen den linken Populisten wählen

Alle fünf Gelbwesten haben früher kommunistisch oder sozialistisch gewählt. Aber damit ist es nun vorbei. Dieses Mal wollen sie ihre Stimme einem Mann geben, den die französischen Medien einen „linken Populisten“ nennen: Jean-Luc Mélenchon. Falls der es nicht in den zweiten Wahlgang schafft, bleiben die fünf Gelbwesten zu Hause. Für eine zweite Amtszeit mit Macron werden sie selbst dann nicht stimmen, wenn die Alternative die rechtsextreme Marine Le Pen ist. „Das sind alles dieselben“, sagt Elektromonteur André über Macron, über traditionelle Rechte und über Rechtsextreme: „Es gibt keine Unterschiede mehr.“

Zu meiner Zeit in Paris existierten die Gelbwesten nicht. Auf der Linken gaben die traditionellen Parteien – Sozialisten und Kommunisten – den Ton an und die Gewerkschaften konnten das Land noch stilllegen. Mitte der 1990er Jahre berichtete ich wochenlang aus einem Frankreich ohne Zugverkehr und Postzustellung. Hunderttausende streikten gegen die Verlängerung der Arbeitszeit und den Abbau von Sozialleistungen. An einem einzigen Tag im Dezember 1995 gingen mehr als zwei Millionen Menschen auf die Straße.

„Hoch lebe das Frankreich derer, die nichts sind“, steht auf einem Transparent, das an diesem 20. März auf dem Platz der République zu lesen ist. Der Kandidat Mélenchon verspricht, dass er das Rentenalter auf 60 Jahre heruntersetzen und einen Mindestlohn von 1.400 Euro garantieren will. An die 100.000 Menschen sind seinem Aufruf gefolgt. Es ist eine beeindruckende Unterstützung für einen Präsidentschaftskandidaten, der bereits seinen dritten Anlauf macht. Sie schwenken die bunten Fähnchen der Bewegung, die sich France Insoumise nennt – aufrührerisches Frankreich –, und vorgedruckte Transparente, die sich gegen Krieg und gegen Atomkraftwerke richten. Von dem kreativen Chaos linker Demonstrationen, bei denen Kommunisten, Trotzkisten, Anarchisten und linke Sozialdemokraten zusammenkommen, ist nichts zu spüren. An diesem Tag geht es nur um Mélenchon.

Der 70-Jährige ist keiner, der wie einst François Mitterrand eine Generation zum Träumen bringen kann. Aber er ist der einzige Kandidat links der Mitte, der eine Chance zu haben scheint, über 10 Prozent zu kommen. Die optimistischsten unter seinen Unterstützern hoffen, dass er es in den zweiten Wahlgang schafft. An seinen Sieg glauben auch sie nicht.

In einer großen Geste widmet Mélenchon seine Veranstaltung dem Widerstand des ukrainischen Volkes. Sein Wort „Résistance“ knüpft an einen großen Moment der französischen Geschichte an. Kritiker nennen Mélenchon russlandfreundlich. Er ist gegen die Stationierung von US-Raketen in Polen, gegen die osteuropäische Nato-Ausdehnung und gegen die französische Nato-Mitgliedschaft.

Gemeinsamkeiten nur bei einer Beerdigung

„Die Zeiten sind härter geworden“, sagt ein Gitarrist auf dem Platz der Nation, „dabei gibt es heute noch mehr Gründe zur Revolte“. Der 40-jährige Simon ist kein Nostalgiker der Sowjetunion. Er wollte nie etwas mit dem real existierenden Sozialismus zu tun haben. Aber seit die Berliner Mauer gefallen ist, spüren auch radikale Linke wie er, wie sich das Kräfteverhältnis zu ihren Ungunsten verändert hat. „Am Ende eines Streiks in den 1990er Jahren suchten die Bosse nach Kompromissen mit der Belegschaft“, vergleicht Simon, „heute lassen sich der Radiosender France Inter und der Buchladen FNAC auch nach monatelangen Arbeitskämpfen nicht auf Verhandlungen ein.“

Der Gitarrist hat sich dem Trauerzug für den Trotzkisten Alain Krivine angeschlossen, der auf einer großen Schleife durch den einst populären Pariser Osten zum Friedhof Père Lachaise zieht. Krivine war an allen linken Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte beteiligt. Im Gegensatz zu anderen Alt-68ern driftete er nicht nach rechts ab.

„Der Kampf geht weiter“, versichern die Trauernden. Bei der Ankunft auf dem Père Lachaise ist ihre Zahl auf mehrere Tausend angewachsen, darunter Mélenchon, mehrere prominente Kommunisten und Mitglieder anderer linker Parteien. Gemeinsam singen sie „Bella ciao“ und summen die Internationale.

Am kommenden Sonntag werden sie wieder getrennte Wege gehen. Eine alte Regel für die französischen Präsidentschaftswahlen, die in zwei Wahlgängen abgehalten wird, besagt: Im ersten Durchgang wählst du nach deiner Überzeugung, in der Stichwahl zwei Wochen später eliminierst du. Wie üblich gibt es im ersten Durchgang jede Menge KandidatInnen. Linke haben die Wahl zwischen zwei TrotzkistInnen, einem Grünen, einem Kommunisten, einer Sozialistin und Mélenchon.

Zwei Rentnerinnen in der Trauergemeinde erwägen, dieses Mal schon im ersten Durchgang „nützlich“, statt nach ihrer Überzeugung zu stimmen. Zähneknirschend wollen sie Mélenchon wählen, obwohl er „von allen anderen erwartet, dass sie sich unterordnen“. Sie wollen verhindern, dass wegen der Spaltung der Linken eine Rechtsextreme in die Stichwahl kommt.

Keine Scham bei den Rechtsextremen

Quelle        :       TAZ-online           >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Der Eiffelturm hinter dem Marsfeld, mit dem Geschäftsviertel La Défense im Hintergrund.

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2.) von Oben      —           Die Place de la République

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Unten       —   Grabsteine im Friedhof Père Lachaise

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