Pandemische Pechsträhne
Erstellt von DL-Redaktion am Samstag 17. Oktober 2020
Corona, Staat und Winterzeit
Eine Kolumne von Thomas Fischer
Es ist gekommen wie vorhergesagt: Auf den Sommer folgt der Herbst. Corona bleibt, das Schicksal droht, und niemand spricht ein Machtwort zum Leben und Sterben. Wie lang doch ein Jahr sein kann!
Hoch im Norden
Am 12. Oktober erschien auf „Welt“-Online ein Kommentar mit dem Titel „Wenn die Kreuzberger Infektionszahlen wichtiger sind als Hunger und Krieg“, Autorin ist Susanne Gaschke, zeitweise Oberbürgermeisterin von Kiel. Die Schlagzeile ist nützlich, weil sie beispielhaft zeigt, wie man in der wahllosen Kombination neutraler Fakten mittels unscheinbar wirkender Wörtlein (hier: „wenn“ und „wichtiger“) kompletten Nonsens, harte Lüge, haltlose Spekulation oder einfach nur tendenziöse Verwirrung erschaffen kann. Das Gift findet seinen Weg dann aus der Headline in die Sinnstrukturen des Darunterliegenden von ganz allein. Wir kennen das aus dem Markt der Sachbücher mit W-Titel: Warum alles immer schlimmer wird; Wie die Regierung uns betrügt; Wozu könnten Männer gut sein; Wieso ich nicht reich und berühmt wurde usw. Mit dem Finden eines solchen Titels ist die intellektuelle Leistung im Wesentlichen erbracht, sie ereignet sich im Verlag. Der von Autor oder Autorin zu erbringende Rest besteht in der in angebliche Kapitel geteilten Wiederholung irgendeiner Behauptung aus dem Klappentext, gestützt auf bewährte Quellen („Immer mehr Steuerzahler haben den Eindruck, dass…“) oder auf Beweise im Pingpong-Modus („Die NYT schrieb schon 2011, es werde böse enden…“).
Im vorliegenden Fall kündigte die Autorin eingangs an, uns zu sagen, was los sei, wenn Kreuzberg-Corona wichtiger ist als „Hunger und Krieg“. Na ja: wenn! Also gleich wieder neue Fragen: Was heißt „wichtiger“? Für wen? Wer misst das und mit welchem Wichtometer? Und vor allem: Was heißt „wenn“? Ist es so oder nicht? Wenn nein: Warum dann fragen? Wenn ja: Worauf ist die Behauptung gestützt? Es ist ein Kreuz mit den W-Titeln: Sie kommen seifenblasenleicht daher und enthalten dann nichts als Schwefelwasserstoff. Schauen wir kurz auf die Beweisführung:
Es ist nicht mehr vernünftig, wie einseitig sich Politik und große Teile der Medien gerade auf eine einzige Krankheit fokussieren. Hunger, Not, Elend und Krieg in anderen Teilen der Welt? Unschön, aber nicht so wichtig wie die Infektionszahlen aus Berlin-Kreuzberg… Die Ungerechtigkeit, wenn eine 17-Jährige von einem Amokläufer erschossen wird oder ein 25-Jähriger an Leukämie zugrunde geht? Schlimm, aber Schicksal… Einzig bei Corona darf es nicht einmal den Rest eines Schicksalsanteils geben. Corona muss zu 100 Prozent besiegt werden, koste es, was es wolle an Grundrechtseingriffen…
Eines ist also sicher: Die Autorin ist überzeugt, dass Covid-19 faktisch, aber unrichtigerweise „wichtiger“ sei als Hunger & Krieg, jedenfalls für „Politik und große Teile der Medien“, was zwei etwas vage, aber doch vertraute Bösewichter sind. Um ihr Wirken (Infektion) und Nichtwirken (Hunger & Krieg) anzuprangern, schrieb die Autorin in einem Pressemedium einen Kommentar – nicht über Hunger & Krieg, sondern über Corona und die Infektionszahlen. So ist das, sagt Niklas Luhmann: Recht kann nur aus Recht kommen, und Journalismus entsteht aus Journalismus.
Der Leitsatz des Kommentars lautet:
Da gegenwärtig kaum noch jemand an Corona stirbt …, fixieren sich Exekutive und Bürokratie nun auf die Infektionszahlen.
Eine analoge Anwendung dieser bizarren Nachricht lässt Zweifel aufkommen: Weil kaum noch jemand an ampelgeregelten Fußgängerüberwegen stirbt, fixiert sich die Verkehrspolizei auf Rotlichtverstöße. Weil nur wenige Menschen an Typhus sterben, fixieren sich die Stadtwerke auf Ausbau und Sanierung der Kanalisation. Höhepunkte der Kausalitätstheorie! Das Problem steckt in der Sinnlosigkeit der Verknüpfung und in der Fehlbewertung der Korrelation, diesmal mit umgekehrten Vorzeichen. Vielleicht stirbt ja deshalb kaum noch jemand, weil Exekutive und (?) Bürokratie (!) sich auf Minimierung von Infektionszahlen „fixieren“. Und vielleicht müssten wir ja nur ein bisschen länger warten und müssten die Infektionszahlen weiter steigern, und schon würde wieder jemand sterben! Und überhaupt: Auf was sonst sollte sich die Exekutive „fixieren“ und die Bürokratie gleich dazu? O.k., die letzte Frage ist unfair, denn Frau Gaschke hat die Antwort gegeben: Hunger & Krieg. Das stimmt einfach immer, kann also gar nicht falsch sein.
Alles hängt am Komparativ „wichtiger“. Wer hat das eigentlich festgestellt? Stimmt es überhaupt? Nehmen zum Beispiel Kieler als solche die Kreuzberger Infektionszahlen wichtiger als die Geisteslage des POTUS oder die phänomenale Spannkraft seines jugendlichen Challengers? Ist für den Flensburger die Pandemielage in Friedrichshain wichtiger als das Heringsaufkommen in der Ostsee? Ich glaube es nicht wirklich, aber wer weiß! Wahrscheinlich meint die Autorin es auch gar nicht wörtlich, sondern irgendwie im übertragenen Sinn, also stimmungsmäßig. Es stinkt ihr, dass in Deutschland nicht über Hunger & Krieg geredet und nicht wie üblich mit ganzer Kraft und maximaler Fixierung gegen Hunger, Krieg und Seuchen auf der Welt angekämpft wird, als da sind Malaria, Masern, Denguefieber, Tuberkulose, Aids und andere. Das ist ja ein ehrenwerter Ansatz.
Weite Welt
Es könne von niemandem verstanden werde, sagte Herr MP Laschet am 14. Oktober im Frühstücksfernsehen, dass zwar hunderttausend Pendler jeden Tag zwischen Brandenburg und Berlin, Hauptstadt der Pandemie, verkehren, man aber nicht im Wald übernachten dürfe. Das stimmt! Ob dieses Beispiel das Herz des Hotel- und Gaststättenverbands (Dehoga) getroffen hat, ist natürlich eine andere Frage, denn ein massenhaftes Übernachten im Wald könnte zwar für Wald-Catering-Start-ups einen Cashflow generieren, ließe aber die für 9 Euro die Stunde gewienerten Junior-Suiten leer. Es muss jetzt einfach eine Hilfe her, weil ja die Tatsachen sich nicht an die Pläne halten, die wir im Frühjahr gemacht hatten: Überraschenderweise gibt es in diesem Jahr Herbstferien und in ungefähr zwei Monaten Weihnachtsferien. Das ist ein Schock! All die schönen Buchungen schmelzen dahin, und mit ihnen der Dispo! Wann wurden die Reisen eigentlich gebucht? Am Ende gar ab März? Könnte man dann nicht vielleicht sagen: Pech gehabt? Der Staat muss ja nicht einspringen, wenn man nicht im Lotto gewinnt. Und ist die heilige Marktwirtschaft nicht das System, das dem Menschengeschlecht einst versprochen wurde: Am Anfang war der Vertrag?
Gibt es eigentlich ein Grundrecht, dreimal im Jahr aus dem Einzugsgebiet eines risikofreien Erlebnisparks in den eines anderen zu verreisen? Gibt es ein Grundrecht darauf, dass kein einziges der zahllosen Risiken, über welche die Verbraucher unermüdlich aufgeklärt werden von Aberhunderten Warn-, Test-, Beratungs-, Interessen-, Aufklärungs- und Leicht-gemacht-für-Anfänger-Verbänden, sich einmal verwirklicht? Hatte man nicht hundertmal gehört, man solle sich nicht so hoch verschulden, dass man unerwartete Katastrophen (Krankheit, Tod, Arbeitslosigkeit, Scheidung), nicht überstehen könne? Ist es ein Menschenrecht, alle Hebel der Lebensplanung stets auf „Volle Kraft voraus“ stellen zu dürfen, solange man die Prämien für die Hausrat-, Reiserücktritts- und Haftpflichtversicherung aufbringt?
Quelle : Spiegel-online >>>>> weiterlesen
——————————————————————–
Grafikquellen :
Oben — Carl Malchin: Deutsch: Winter in Markgrafenheide
Herkunft/Fotograf | Niedersächsisches Landesmuseum Hannover (Sonderaussstellung – Heimat) – Uploader Hajotthu at de.wikipedia |
Dieses Werk ist gemeinfrei, weil seine urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist.
Dies gilt für das Herkunftsland des Werks und alle weiteren Staaten mit einer gesetzlichen Schutzfrist von 90 oder weniger Jahren nach dem Tod des Urhebers.
Parallel zu dieser Lizenz muss auch ein Lizenzbaustein für die United States public domain gesetzt werden, um anzuzeigen, dass dieses Werk auch in den Vereinigten Staaten gemeinfrei ist.
—————————-
Unten — Thomas Fischer auf der re:publica 2016
Ot – Eigenes Werk
Thomas Fischer (Jurist)
CC-BY-SA 4.0
File:Thomas Fischer-Jurist-rebuliva16.JPG
Erstellt: 4. Mai 2016