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RENTENANGST

Nieten in Nadelstreifen

Erstellt von Redaktion am Donnerstag 14. Juni 2018

Die Memoiren des Monsieur Hollande

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Fortsetzungsgeschichte von Ausgepreisten Versagern

von Serge Halimi

Vor zwölf Jahren zog François Hol­lande, damals Vorsitzender der Sozialistischen Partei (Parti socialiste, PS), die Lehren aus dem Scheitern Lionel Jospins in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen 2002. Er beschwor die Akteure links der PS, „die Sozialdemokratie sich nicht allein zu überlassen“. Andernfalls, so befürchtete er, würden sich die „beiden Strömungen“ der Linken, also seine eigene und die radikalere, „nicht mehr treffen“, selbst wenn es bei Wahlen gemeinsame Schnittmengen gebe.

Mit dieser Einschätzung lag er gar nicht so falsch. Fünf Jahre regierte Hollande, der 2012 – begünstigt durch die starke Ablehnung seines Vorgängers – zum französischen Staatspräsidenten gewählt wurde, im Alleingang und mit allen denkbaren politischen Freiheiten. Doch am Ende waren die Franzosen dermaßen „enttäuscht“ von ihm, dass der PS-Kandidat Benoît Hamon im April 2017 bei den Präsidentschaftswahlen – mit Unterstützung der Grünen – gerade einmal auf 6,3 Prozent der Stimmen kam. Die meisten Hollande-Wähler von 2012 zogen ihm Emma­nuel Macron oder Jean-Luc Mélenchon vor.  Nie war der Abstand zwischen den „beiden Strömungen“ der Linken in den vergangenen 50 Jahren so groß wie heute.

Inzwischen haben einige Hauptakteure der letzten Legislaturperiode – namentlich Bernard Caze­neuve und François Hollande – ihre Erinnerungen an die Regierungszeit als Premier und Prä­sident veröffentlicht. Grundlegende Selbstkritik, die man in diesen Publikationen hätte erwarten können, sucht man jedoch vergebens. In Cazeneuves Memoiren erfährt man fast nichts über seine „150 Tage unter Druck im Matignon“, abgesehen von den „spektakulären Ergebnissen der Diät“ des damaligen EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz. Oder dem Detail, dass „der Duft feuchter Erde“ in einem Wald seiner Meinung nach „einem Versprechen für die jungen Sprosse des nächsten Frühjahrs gleicht“.

Abgesehen von diesem Ausflug in die Botanik findet sich in seinem Erfahrungsbericht nicht die kleinste Spur von Hoffnung, von einem großen Vorhaben oder überhaupt irgendeines Projekts. Caze­neuve regiert, und fertig. Er leitet Versammlungen, weiht Orte ein, spult Reden herunter. Und wenn nichts so richtig läuft, was häufig der Fall war, dann macht er für seine Unbeliebtheit die Unstimmigkeiten zwischen seinen „Freunden“ verantwortlich, ihre „aufgewärmten kleinen Hässlichkeiten“ und den „Linksradikalismus“ der PS-Kritiker.

Während Cazeneuves Amtszeit verorteten die französischen Sozialisten ihre Feinde außerhalb der eigenen Reihen. Links davon, um genau zu sein. So berichtet der ehemalige Premierminister in seinem Buch, François Hollande sei elf Tage vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen 2017 „besorgt“ gewesen über den Stimmenzuwachs Jean-Luc Mélenchons in den Umfragen. Anstatt sich, wie man hätte annehmen können, über den Rückgang der Unterstützung für die extreme Rechten zu freuen, sei damals auch für ihn selbst klar gewesen, dass Mélenchon „bekämpft werden“ müsse. Die Abneigung des Regierungsduos gegen die „radikale Linke“ überwog alles. Dem Expräsidenten zufolge arbeitet diese Linke „an keinerlei Systemalternative“. Auch besitze sie „weder glaubwürdige Angebote noch Verbündete“, weshalb sie „die Traumkontrahentin des Kapitalismus“ schlechthin sei.

Doch erscheint es den Sozialdemokraten heute überhaupt noch sinnvoll, sich dem Kapitalismus zu widersetzen? Nach dem Lesen der Bücher Caze­neuves und Hollandes – oder auch Pierre Moscovicis , der unter Hollande zwei Jahre das Finanz- und Wirtschaftsministerium leitete – besteht kein Zweifel mehr an der Antwort auf diese Frage. Keiner der drei Autoren betrachtet die eigenen Wahlergebnisse – oder das gesellschaftliche Klima – in irgendeiner Weise als Ablehnung ihrer neoliberalen Politik. Lediglich methodische Ungeschicklichkeiten, schlechtes Timing und „päda­go­gische“ Mängel räumen sie ein.

Grundsätzliche Kritik an ihrer „Angebotspolitik“ oder ihrer Unterwürfigkeit gegenüber Angela Merkel werden nicht diskutiert, sondern mit Verachtung gestraft („Diskurse“, „Beschwörungen“, „Beschimpfungen“). Zwischen den Zeilen offenbart Moscovici sogar die intellektuelle Borniertheit seiner politischen Freunde: „Manch einer wird uns das vorhalten, aber wir hatten gar keine Debatte [über die Priorität des Defizitabbaus], sondern wir haben uns sofort für Europa entschieden.“ Die Sache betrübt ihn, jedoch aus einem anderen Grund, als man meinen könnte. „Es ist ungerecht, dass uns das niemand zugutehält.“ Also wirklich: Welch schreckliche Ungerechtigkeit, dass einem keiner „zugutehält“, ohne vorherige Debatte eine strategische Entscheidung gefällt zu haben. Zumal mit dieser Entscheidung ein vor der Bevölkerung abgelegtes Wahlversprechen gebrochen wurde.

In seiner Rede in Le Bourget am 22. Januar 2012 hatte Hollande nämlich folgenden Satz gesagt: „Auf europäischer Ebene werde ich mich, sofern die Franzosen mir das Mandat dazu erteilen, als Erstes mit der deutschen Kanzlerin treffen und ihr sagen, dass wir gemeinsam den Kurs Europas ändern müssen, indem wir das Wachstum fördern und Großprojekte anstoßen.“ Was ist daraus geworden? Nichts. In einem Buch, das einer Anklageschrift gleicht, schreibt Aquilino Morelle, ein ehemaliger Berater des Präsidenten, über diese Episode: „Im Februar 2012, also unmittelbar nach der Rede in Le Bourget, entsandte der Präsident klammheimlich Em­ma­nuel Macron nach Berlin, um sich mit Merkels Europaberater Nikolaus Meyer-Landrut zu treffen und die Kanzlerin auf diesem Weg über seine eigentlichen Absichten zu informieren.“ Fortan musste Merkel sich nie wieder Sorgen machen.

Doch auch in dieser Hinsicht gibt es für Hollande nichts zu bereuen: „Bislang haben wir uns stets hinter der Idee eines sozialistischen ,anderen Europas‘ versteckt. Aber mit wem sollen wir es aufbauen? Aus Erfahrung kann ich heute mit Gewissheit sagen, dass es nicht mehr darum geht, von einem neuen Europa zu träumen, sondern darum, herauszufinden, ob man dabei sein sollte oder nicht.“ Pierre Moscovici, heute EU-Wirtschaftskommissar, unterstützt diese Ohn­machts­theo­rie: „Es wird zwar den einen oder die andere enttäuschen, aber ich will niemandem etwas vormachen. Ein soziales Europa – noch so ein alter Hut – wird so lange nichts als eine schöne Idee bleiben, bis die Einstimmigkeitsregel abgeschafft ist.“ Doch dafür müssten die Europäischen Verträge neu verhandelt werden – eine Möglichkeit, die Moscovici strikt ablehnt. Und das ist nicht die einzige Hürde beziehungsweise Vorwand, mit dem die Autoren ihr Nichtstun rechtfertigen. „Die Herrschaft der Märkte, mit der wir uns arrangieren mussten“, spielte dem Expräsidenten zufolge ebenfalls eine zentrale Rolle innerhalb des Staatsapparats. Moscovicis kühle Beschreibung seiner Behörde verdeutlicht, was damit gemeint ist. Unter Verweis auf die Allmacht Bercys (das französische Wirtschafts- und Finanzministerium) mit seinen „160 000 Beamten – mehr als fünfmal so viele Angestellte wie in der Europäischen Kommission beziehungsweise so viele Menschen, wie in der Stadt Nîmes leben“ – betont der ehemalige Minister gleich zu Beginn: „Diese Behörde ist felsenfest davon überzeugt, dass Frankreich am stärksten von der europäischen Integration profitiert.“

Quelle      :    Le Monde diplomatique       >>>>>      wieterlesen

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Grafikquelle    :

PRESS CONFERENCE MERKEL-HOLLANDE – BRATISLAVA SUMMIT 16. SEPTEMBER 2016 Photo Rastislav Polak

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