Nichts ist normal in Gaza
Erstellt von DL-Redaktion am Mittwoch 1. November 2017
Nichts ist normal in Gaza
von Sara Roy
Die ohnehin katastrophale Lage der Bewohner von Gaza ist seit dem Sommer noch schlimmer geworden. Mit der jüngsten Annäherung zwischen Fatah und Hamas steigt nun die Hoffnung auf Besserung. Doch dafür müsste auch Israel einlenken und seine Blockade lockern.
Als der palästinensische Premierminister Hamdallah am 2. Oktober den Erez-Grenzübergang nach Gaza überquerte, wurde er mit frenetischem Jubel begrüßt. Sein Besuch war ein erster Schritt zu einem erneuten Versuch einer Einigung zwischen den verfeindeten Parteien Fatah und Hamas.
Zwei Wochen zuvor hatte die Hamas-Regierung in Gaza verkündet, sie sei bereit, mit der Fatah über eine Versöhnung zu verhandeln und ihren Verwaltungsrat aufzulösen, der die Regierungsgeschäfte in Gaza bis dahin de facto geführt hat. Ob die Versöhnung diesmal gelingt, steht allerdings in den Sternen. Der letzte Versuch zur Bildung einer Einheitsregierung 2014 scheiterte bereits nach wenigen Wochen.
Die Hamas, die den Gazastreifen seit 2007 kontrolliert,1 trat mit ihrem neuen Versöhnungsangebot eine Flucht nach vor an, denn Gaza befindet sich seit Monaten in einer Art humanitärem Schockzustand. Das liegt vor allem an der andauernden israelischen Blockade, die von den USA, Europa und Ägypten unterstützt wird, aber auch am zunehmenden Drucks aus Ramallah.
Während meines letzten Besuchs in Gaza im Frühjahr 2017 haben mich zwei Dinge am meisten berührt: die verheerenden Auswirkungen der mittlerweile über zehn Jahre andauernden Isolation Gazas vom Rest der Welt und die Tatsache, dass hier immer mehr Menschen ganz offensichtlich am Ende ihrer Kräfte sind.
Einst war das kleine Küstengebiet eine blühende Handelsstätte, heute wird kaum noch etwas produziert. Die Wirtschaft ist weitgehend vom Konsum abhängig.2 Zuletzt hatten Exporterleichterungen die Agrarausfuhren ins Westjordanland und nach Israel – lange Zeit Gazas Hauptabsatzmärkte – leicht ansteigen lassen, doch das reicht bei Weitem nicht, um den geschwächten produktiven Sektor in Gang zu bringen. Fast die Hälfte der Erwerbsbevölkerung in Gaza kann ihren Lebensunterhalt nicht mehr selbst verdienen. Die Arbeitslosenquote beträgt heute um die 42 Prozent; bei jungen Leuten zwischen 15 und 29 erreicht sie sogar 60 Prozent. Die Suche nach einem Job oder irgendeiner anderen Möglichkeit, Geld zu verdienen, zerrt an den Nerven. Die Leute können fast an gar nichts anderes mehr denken, erzählte man mir.
Für die politischen Spannungen in den letzten Jahren zwischen der Hamas-Regierung in Gaza und der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in Ramallah machen sie im Gazastreifen vor allem Präsident Abbas verantwortlich, der die Hoheit über den Etat der PA hat und sich in den vergangenen Jahren weigerte, die Verwaltungsbeamten der Hamas-Regierung auf die Gehaltsliste zu setzen. Bei meinem Besuch gab man mir wiederholt zu verstehen, dass Abbas, wenn er die Unterstützung der Bevölkerung in Gaza haben wolle, den Hamas-Beamten nur ihre Gehälter auszahlen müsse. Er sträubte sich bisher mit dem Argument, dass von dem Geld der militärische Arm der Hamas finanziert werde, und trägt so eine Mitschuld an Gazas desolater Lage.
Abbas’ Weigerung brachte die Leute umso mehr auf, weil die rund 55 000 Beamten, die vor 2007 (also noch unter der Fatah) eingestellt wurden, weiterhin ihr volles Monatsgehalt bekamen. Das liegt zwischen 500 bis 1000 Dollar, was für die hiesigen Verhältnisse eine hohe Summe ist. Diese Leute werden vor allem dafür bezahlt, dass sie nicht für die Hamas-Regierung arbeiten, die PA ließ sich das bis vor Kurzem jeden Monat 45 Millionen Dollar kosten – Geld, das hauptsächlich aus Saudi-Arabien, der EU und den USA stammt.
Im April 2017 jedoch kürzte Abbas diese Gehälter um 30 bis 50 Prozent, um den allgemeinen Druck zu erhöhen, und drohte: „Entweder gibt uns Hamas den Gazastreifen zurück, oder sie müssen die volle Verantwortung für die Bevölkerung übernehmen.“ Der Konfliktforscher Brian Barber, der sich damals gerade in Gaza aufhielt, berichtet, die Gehaltskürzungen hätten eine regelrechte Schockwelle ausgelöst. Anfang Juli versetzte die Autonomiebehörde dann auch noch 6000 Beamte in den vorzeitigen Ruhestand.
Kein Trinkwasser und selten Strom
Außerdem entschied Abbas, die PA-Zahlungen für Strom aus Israel für Gaza auszusetzen. Prompt lieferte Israel im Juni weniger Strom. Zuvor waren täglich 120 Megawatt in den Gazastreifen geflossen, was etwa ein Viertel des gesamten Strombedarfs gedeckt hat. Gazas einziges Kraftwerk, das mit Diesel betrieben wird, läuft wegen fehlenden Kraftstoffs seit Monaten nicht mit voller Kapazität. Zuletzt gab es in Gaza oft nur zwei bis vier Stunden am Tag Strom.
Nach Angaben der NGO Oxfam ist die gesamte Situation inzwischen schlimmer als nach dem Gaza-Krieg von 2014. Damals hatte rund die Hälfte der Bewohner keinen ausreichenden Zugang zu Trinkwasser – heute gilt das für die gesamte Bevölkerung.3 Die Abwasserentsorgung ist weitgehend zusammengebrochen, ein Großteil der Abwässer wird direkt ins Meer geleitet. 73 Prozent der Küstengewässer Gazas sind gesundheitsgefährdend verschmutzt und selbst im Süden Israels wurden Strände gesperrt.4
Es fehlt an allem. Neu ist die immense Verzweiflung, die die Menschen dazu treibt, sämtliche Tabus zu überschreiten. Einmal kam eine gut angezogene Frau, das Gesicht hinter einem Nikab verborgen, in mein Hotel, um zu betteln. Als die Hotelangestellten sie höflich baten, zu gehen, weigerte sie sich energisch und bestand darauf zu bleiben – am Ende musste sie gewaltsam nach draußen gebracht werden. Sie fragte nicht, ob sie betteln dürfe, sie forderte es. So etwas habe ich in Gaza noch nie zuvor erlebt.
Das vielleicht alarmierendste Zeichen dieser Verzweiflung ist die zunehmende Prostitution. In der traditionsbewussten konservativen Gesellschaft Gazas galt sie immer als unmoralisch und schändlich; nicht nur die Frauen, die sich prostituierten, auch ihre Familien wurden sozial geächtet. Das scheint sich in den letzten Jahren geändert zu haben. Ein bekannter Arbeitgeber, der in Gaza hoch angesehen ist, erzählte mir, dass Frauen, oft gut gekleidet, in sein Büro kommen, um sich ihm „für wenig Geld“ anzubieten.
Junge Frauen, erzählte er mir, hätten es inzwischen sehr schwer, einen Ehemann zu finden, weil die Männer fürchten, dass sie nicht mehr „rein“ sind. Eltern würden ihn geradezu anflehen, ihre Töchter einzustellen, damit sie einen „sicheren und anständigen“ Arbeitsplatz haben. Ein Freund erzählte mir, dass er in einem Restaurant mitbekommen habe, wie eine junge Frau einem Mann ein unmissverständliches Angebot gemacht hat, während ihre Eltern daneben saßen. Als ich ihn fragte, wie er sich ein solches Verhalten erklärt, antwortete er: „Leute, die in einem normalen Umfeld leben, verhalten sich normal. Leute, die in einem unnormalen Umfeld leben, nicht.“
Nichts ist normal in Gaza. Mindestens 1,3 Millionen von insgesamt 1,9 Millionen Einwohnern sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, größtenteils in Form von Lebensmitteln (Reis, Zucker, Öl, Milch). Mitte 2016 gab es in Gaza 65 000 Binnenflüchtlinge (unmittelbar nach der israelischen Offensive von 2014 waren es sogar 500 000). 41 000 Menschen sind praktisch obdachlos und haben überhaupt kein Bargeld.
Quelle : Le Monde diplomatique >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Strandleben in Gaza /Gaza Beach