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Eine Union ohne Nationale

Erstellt von Redaktion am Sonntag 10. September 2017

Brauchen wir den Nationalstaat noch

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von Ulrike Guérot

Auf den einen Markt, die eine Währung muss die eine Demokratie folgen. Sie muss europäisiert werden, soll das Projekt Europa nicht scheitern.

Es geht ihm nicht gut derzeit, dem Nationalstaat in Europa. Er wird arg in die Zange genommen. Von oben fummelt die EU an ihm herum, die sich derzeit mit Vertragsverletzungsverfahren in die nationalen Demokratien zum Beispiel von Ungarn oder Polen einmischt. Von unten begehren die Katalanen, die Schotten oder auch die Bayern auf, die es vermeintlich allein können. Wobei unklar bleibt, was sie allein „können“: einen eigenen Staat haben und eine eigene Währung oder Armee dazu? Oder nur eine Art autonomen Staat ohne Letzteres?

Fest steht, dass der europäische Nationalstaat in einer ziemlichen Sandwichposition ist. Was eine Nation ist und zugleich was sie darf, verschwimmt zunehmend. Die Nation wird heute zwischen europäischer und regionaler Ebene zerrieben. Ob zum Beispiel die Schotten oder die Katalanen nur „Region“ oder doch „Nation“ sind, geht immer mehr durcheinander; genauer: ob sie Ersteres bleiben müssen oder Letzteres werden dürfen. In welcher historischen Formation eine Nation gerade auftritt, ist historisch kontingent. Was zu einer gegebenen Zeit als Nationalstaat bezeichnet wird, ist ein Artefakt menschlichen Handelns. Nationalstaaten wurden und werden gemacht.

Es gibt also keine „nationalstaatliche Ontologie“, sondern es ist immer eine Bewegung. Das vorerst letzte Stück dieser historischen Bewegung konnte man zum Beispiel in Europa vor rund zehn Jahren im Kosovo bewundern, das zu einem „Nationalstaat“ gemacht wurde, der inzwischen von 115 Staaten offiziell als solcher anerkannt wird, nicht etwa weil es einen „kosovarischen Demos“ gab, sondern weil vor allem die USA das damals so wollten.

Schon 1963 hat der berühmte (und im Übrigen konservative) Historiker Theodor Schieder in einem kleinen Essay den Nationalstaat als historisches Phänomen bezeichnet und darauf hingewiesen, dass die Nationalstaatsgründungen in Europa in der jüngeren Geschichte eine dreistufige Bewegung waren: In der ersten Etappe bildete sich die moderne Nation in England und Frankreich durch innerstaatliche Revolution, in der die staatliche Gemeinschaft auf den Volkswillen, die volonté générale, übertragen wurde. Die englische Monarchie bekam ein Parlament, Frankreich wurde sogar zur Republik.

Das subjektive Bekenntnis der Bürger zum na­tio­nalen Staat wurde das einigende Kriterium, nicht etwa Sprache, Volksgeist oder Nationalcharakter. Nation war in erster Linie Staatsbürger­gemeinschaft – mit gleichen Rechten für gleiche Bürger, und zwar unabhängig von deren ethnischer Herkunft. Der homogene Nationalstaat, um den heute scheinbar wieder gerungen wird, war schon damals eine Schimäre: Basken und Elsässer sprachen nicht die gleiche Sprache.

Die zweite Phase bringt vor allem in Westeuropa – deutscher Vormärz und italienisches Risorgimento – die Entstehung von Nationalstaaten aus bis dato in staatlicher Hinsicht getrennten Teilen von (Kultur-)Nationen. Es ist die Stunde der nationalen Einigungsbewegungen, denen vor allem im deutschen Idealismus, etwa bei Herder, die zunächst unpolitisch verstandene Idee eines Volkes zugrunde liegt, das noch nicht in einer übergreifenden Staatlichkeit mit geschlossenem Staatsbürgerverband geeint ist. Genau dies hat Garibaldi in Italien und Bismarck in Deutschland im 19. Jahrhundert dann gemacht: aus den Hessen, Bayern, Franken und Pfälzern wurden dieDeutschen. Heute ist vergessen, dass sich die deutschen Truppen im Deutsch-Französischen Krieg von 1870 bis 1872 wegen der Sprachenvielfalt und der Dialekte kaum untereinander verständigen konnten, sodass es zum Problem für den Generalstab wurde.

Ein zentrales Element der nationalstaatlichen Einigung waren freie, gleiche und geheime Wahlen. Die Wirkung des Gleichheitsversprechens auf Gesellschaften steht am Ursprung jeder demokratischen Revolution. Das rechtliche Prinzip hat eine symbolische Wirkung und entfaltet universalistische Integrationsmacht. Die Einheit der deutschen Nation wurde also nach dem Paulskirchenprozess im Wesentlichen über Wahlrechtsgleichheit herbeigeführt.

In der dritten Phase schließlich ging es vor allem in Mittel- und Osteuropa im Wesentlichen um die De­kon­struk­tion zunächst der alten Imperien des 19. Jahrhunderts – habsburgisch-österreichisch, russisch beziehungsweise osmanisch-türkisch –, die gleichsam zur ersten Runde der osteuropäischen Nationalstaatsbildung in der Zwischenkriegszeit geführt hat. Die zweite Runde der osteuropäischen Nationalstaatsbildung war dann die De­kon­struk­tion der damaligen UdSSR sowie Jugoslawiens, was der Weltgemeinschaft wieder ein paar Nationen mehr bescherte. Dieser Prozess – und er dürfte nicht zu Ende sein, beobachtet man aktuelle Ereignisse in Russland oder der Ukraine – war und ist ein Prozess der Nationalstaatsbildung durch Abtrennung oder Sezession.

Souverän ist immer nur der Bürger

Quelle   :  TAZ >>>>> weiterlesen

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Grafikquellen     :

Pulse of Europe – Buttons, Veranstaltung am 30. April 2017 in München, Max-Joseph-Platz.

 

 

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