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Jüdisches Leben in Berlin

Erstellt von Redaktion am Donnerstag 15. Februar 2018

Antisemitismus in Deutschland

Foto © Reinhold Fahlbusch. CC BY-SA Wikimedia Commons

Aus Berlin von Steffi Unsleber

Was bedeutet der alltägliche Judenhass für die Betroffenen? Yorai Feinberg und Gemma Michalski berichten über ihr Martyrium.

BERLIN taz | Als Yorai Feinberg am 19. Dezember 2017 auf die Straße tritt, will er eigentlich nur kurz durchatmen. Sein Restaurant hat bei Google gerade eine negative Bewertung bekommen – von einem gewissen AlKiefah, der israelische Einrichtungen auf der ganzen Welt schlecht bewertet. Feinberg zündet sich eine Zigarette an. Es ist kurz vor Weihnachten. Nur noch ein paar Tage, dann würden sie das Lokal für zwei Wochen schließen und in Urlaub fliegen.

Dann kommt dieser Mann auf ihn zu. Ein älterer Herr mit grauem Haar und Kunstpelzkragen. Er sieht gepflegt aus, er ist Physiotherapeut in Charlottenburg, wird Feinberg später erfahren.

„Ihr seid verrückt“, sagt dieser Mann. „Warum?“, fragt Feinberg. „Weil ihr seit siebzig Jahren Krieg gegen die Palästinenser führt.“ Die Diskussion springt hin und her, der Ton wird immer unfreundlicher, Feinbergs Freundin filmt. „Ihr seid so brutal“, sagt der Mann. Und zeigt auf die Menora, den siebenarmigen Leuchter im Schaufenster des Restaurants. „Was wollt ihr denn noch hier nach 45? Alle wieder zurück in eure blöden Gaskammern. Keiner will euch hier.“ Der Mann besprüht Yorai Feinberg mit Spucke, während er spricht, Feinberg weicht zurück. Nach einigen Minuten fährt ein Polizeiwagen vorbei, Feinberg hält das Auto an. Als der Polizist dem Mann einen Platzverweis erteilt, dreht der durch. „Du Judensau!“, schreit er und versucht, am Polizisten vorbeizukommen. Ein Freund von Feinberg stellt das Video etwas später online und das Restaurant wird über Nacht berühmt.

Als Yorai Feinberg ein paar Wochen später davon erzählt, wirkt er gefasst. Er sagt, er erlebe so etwas ungefähr einmal im Monat. Anrufer, die ihm „Grüße von Adolf“ ausrichten. Leute, die „Heil Hitler“ ins Telefon rufen. Oder etwas wie: „Wir sind 50 Palästinenser und wollen einen Tisch reservieren.“

Feinberg überlegt, Deutschland zu verlassen

Feinberg stammt aus einer polnischen Familie. Sein Vater hat den Holocaust überlebt; er hat sich als Vierjähriger in einem Erdloch unter einer Scheune versteckt. All diese Nazisprüche verletzen ihn. Er überlegt schon länger, Deutschland zu verlassen, sagt er. Und viele jüdische Menschen, die er kenne, denken wie er.

Jeder Jude, der eine Weile in Deutschland gelebt hat, lerne diesen Hass kennen, sagt er. „Es gibt Antisemitismus von Rechten, von Linken und von Muslimen. Ein Problem verdeckt das andere.“ Er spürte den Hass zum ersten Mal vor etwa zwanzig Jahren, da war er 19 und tanzte in Leipzig Ballett. Die Tänzer begrüßten ihn immer mit „Heil Hitler“, sagt er. Der erste Solist war der Schlimmste: Er habe sich zwei Finger unter seine Nase gelegt und Hitler imitiert. Alle anderen haben gelacht. „Er war wirklich böse“, sagt Feinberg. „Und ich war ein ganz kleines Kind.“

Ein paar Tage, nachdem Feinberg durch das Video berühmt geworden ist, werfen zwei Männer ihm Böller vor die Tür. Einer ruft an und sagt, dass er tote Juden essen will. Und als Feinberg und seine Freundin aus dem Urlaub zurückkommen, finden sie vor dem Eingang eine Papiertüte voller Kot.

Es waren schwierige Wochen für Juden in Berlin und in Deutschland. Da waren die Jugendlichen, die zwei Hebräisch sprechende Kinder auf einem Spielplatz mit Böllern bewarfen. Die versuchten, die Haare anzuzünden, dann wegrannten und riefen: „Allahu akbar!“

Da war die Demonstration vor der US-Botschaft, bei der einige Teilnehmer Israelfahnen verbrannten und „Tod den Juden“ riefen – so berichten es Zuschauer. Die Menge applaudierte.

Da war der Vorfall an einer Schule: Ein jüdischer Junge wurde von seinen Mitschülern angegriffen, als es um den Nahostkonflikt ging. „Ihr seid Kindermörder“, riefen sie. „Euch sollte man die Köpfe abschneiden.“ Und: „Ich schwöre, Hitler war gut, denn er hat die Juden umgebracht.“ Zu seiner Sicherheit wird der jüdische Junge seine Pausen jetzt getrennt von den anderen verbringen. Er leidet unter Albträumen.

Und das sind nur die Fälle, die bekannt geworden sind.

Wie die Statistik der Antisemiten verzerrt wird

Benjamin Steinitz, der Leiter der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus, sammelt all diese Fälle in seiner Chronik. Für das Jahr 2017 verzeichnet er in Berlin 500 antisemitische Vorfälle, darunter zehn Angriffe, dreizehn Bedrohungen, neunzehn Sachbeschädigungen und über 450 Mal verletzendes Verhalten. Betroffene können ihre Erfahrungen bei ihm online melden. Die Polizei zählt für das vergangene Jahr deutschlandweit 1.453 antisemitische Straftaten, darunter 32 Gewalttaten. Sie geht in 95 Prozent der Taten von einem rechtsextremen Hintergrund aus.

Das stimmt allerdings so nicht. Denn: Antisemitische Straftaten, bei denen ein Täter nicht bekannt ist, werden, wenn keine weiteren Hinweise vorliegen, als rechtsextrem eingestuft. Das passiert in der Regel bei den Propagandadelikten, die den Großteil der Straftaten ausmachen. Steht irgendwo „Tod den Juden“, gilt das als Straftat aus dem rechten Milieu und wird entsprechend gezählt. Steinitz geht deshalb von einer Verzerrung aus. „Sobald Personen Angaben über die Täter machen können, verändert sich das Verhältnis sofort“, sagt Steinitz. „Dann ist in der Regel das Verhältnis zwischen rechtsextremen und nicht-rechtsextremen Tathintergründen ausgeglichen.“

Steinitz holt Luft. Er weiß, dass das ein schwieriges Thema ist. Er möchte nicht so verstanden werden, als ob er die Rechtsextremen nicht sehen würde. Aber er möchte ihren Anteil an den Straftaten auch nicht übertreiben. Gleichzeitig, sagt er, instrumentalisiere die AfD das Thema, um gegen andere Minderheiten vorzugehen. Beides müsse man berücksichtigen, wenn man über Antisemitismus spricht.

Benjamin Steinitz kennt auch das Video von Yorai Feinberg und dem Pöbler. „Interessant war die Reaktion des Mannes auf die Menora. Ein Kerzenhalter wird als brutal empfunden, als Angriff auf ein behütetes Dasein. Im Prinzip provozieren Juden allein dadurch, dass sie oder jüdische Symbole sichtbar sind.“

Quelle     :        TAZ       >>>>>        weiterlesen

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Grafikquellen    :

Oben   ––      Auf einer „Bunt statt Braun“-Demo gegen Pegida in Deutschland. This message on a german protest march against the xenophobe „Pegida“ says „diversity instead of simplemindedness“.

© 2015 Reinhold Fahlbusch. CC BY-SA Wikimedia Commons

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Unten   —    Synagoge am Fraenkelufer

 

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