Menschenrechte als Waffe
Erstellt von DL-Redaktion am Mittwoch 11. August 2021
Kiew sollte die Klage dennoch ernst nehmen
Von Bernhard Clasen
Russland zieht vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, um die Ukraine anzuklagen. Das ist zynisch.
Russland hat seine Liebe zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg entdeckt. Ende Juli übermittelte es eine 300 Seiten starke Anklageschrift gegen die Ukraine. Diese Klage ist den russischen Behörden sogar so wichtig, dass sie das Straßburger Gericht aufgefordert haben, Regel 39, also eine Eilbehandlung, anzuwenden. Das Gericht hat die Klage zwar angenommen, es aber abgelehnt, nach Regel 39 vorzugehen.
Russlands neues Interesse am Gerichtshof für Menschenrechte ist verwunderlich, denn bisher hat Moskau diese Institution oft missachtet. 2015 wurde extra ein Gesetz verabschiedet, mit dem sich Russland erlaubt, Entscheidungen des Gerichtshofs zu ignorieren. Viele Urteile wurden gar nicht oder nur teilweise umgesetzt.
Tschetschenien ist dafür ein Beispiel: Russland hat zwar akzeptiert, den Angehörigen von verschleppten und verschwundenen Menschen ein Schmerzensgeld zu zahlen. Aber es ist nicht den Straßburger Forderungen nachgekommen, Menschenrechtsverletzungen prinzipiell zu vermeiden. Nach wie vor wird in tschetschenischen Gefängnissen gefoltert, werden Bürgerrechtler inhaftiert und Homosexuelle verfolgt.
Wie selektiv Moskau mit dem Thema Menschenrechte umgeht, zeigt auch der Fall Alexei Kudin: Der belarussische Kickboxer wurde im Juli von Russland nach Minsk abgeschoben. Dabei hatte der Straßburger Gerichtshof in einer Eilentscheidung nach Regel 39 diese Auslieferung verboten. Doch diese Eilentscheidung wurde von Moskau ignoriert – während es gleichzeitig eine Eilentscheidung gegen die Ukraine verlangte.
Anfang des Jahres forderte Straßburg, den russischen Oppositionspolitiker Alexei Nawalni freizulassen. Auch dieses Urteil hat Russland ignoriert, denn es sei, so Präsidentensprecher Peskow, ein „sehr ernsthafter Einmischungsversuch in die innerrussische Gerichtsbarkeit“.
Wenn es um Menschenrechte geht, misst Russland mit zweierlei Maß: In Tschetschenien hat Russland im Kampf gegen Separatisten ganze Stadtteile dem Erdboden gleichgemacht und Flüchtlingstrecks bombardiert. Gleichzeitig wirft man aber der ukrainischen Armee vor, auch zivile Ziele in der Ostukraine zu beschießen. Würde die Ukraine gegen die ukrainischen Separatisten so vorgehen, wie sich Russland gegenüber tschetschenischen Separatisten verhalten hatte, wäre das Zentrum von Donezk komplett dem Erdboden gleichgemacht worden.
Russland kritisiert – durchaus zu Recht – die Schließung regierungskritischer Fernsehkanäle durch die ukrainischen Behörden. Aber gleichzeitig geht Moskau rabiat gegen alle Kritiker vor. So muss der russische Oppositionelle Andrei Borowikow 2,5 Jahren Haft absitzen, weil er ein Rammstein-Video geteilt hatte. Viele staatsferne Medien und Journalisten werden zu „ausländischen Agenten“ oder „unerwünschten Organisationen“ erklärt und in ihrer Arbeit behindert. Ende Juli waren wieder 49 Internetportale von der russischen Generalstaatsanwaltschaft blockiert worden. Schon seit Jahren sind führende ukrainische Portale in Russland nicht mehr abrufbar.
Der ukrainische Außenminister, Dmitrij Kuleba, äußerte daher den Verdacht, mit seiner Klage in Straßburg wolle Russland nur viel Lärm im Informationsraum machen. An einem Ablenkungsmanöver könnte Russland tatsächlich Interesse haben, denn am 23. August tagt in Kiew die „Krimplattform“, die von der ukrainischen Regierung initiiert wurde und zu der Präsidenten mehrerer Länder, Minister und Politiker aus der EU, der Türkei und den USA erwartet werden.
Quelle : TAZ-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Photo from the official photostream of the President of Ukraine.