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Mehr Demokratie wagen !

Erstellt von Redaktion am Freitag 5. Juli 2019

„WIR WOLLEN MEHR DEMOKRATIE WAGEN“ – 1969  oder:
DEMOKRATIE LEBEN – 2019

Willy Brandt01.jpg

Von Stefan Weinert

„Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir wollen eine Gesellschaft, die mehr Freiheit bietet und mehr Mitverantwortung fordert.“ – Willy Brandt (1913 bis 1992) am 28.10.1969 im Deutschen Bundestag Quelle: https://www.nn-ghostwriting.de/willy-brandt-2/ und: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 6. Wahlperiode, Stenographische Berichte Bd. 71, Bonn 1969/70, S. 20-34. Willy Brandt, Regierungserklärung vom 28.10.1969 “ … Unser Volk braucht wie jedes andere seine innere Ordnung. In den 70er Jahren werden wir aber in diesem Lande nur so viel Ordnung haben, wie wir an Mitverantwortung ermutigen. Solche demokratische Ordnung braucht außerordentliche Geduld im Zuhören und außerordentliche Anstrengung, sich gegenseitig zu verstehen.

Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information Genüge tun. Wir werden darauf hinwirken, dass nicht nur durch Anhörungen im Bundestag, sondern auch durch ständige Fühlungnahme mit den repräsentativen Gruppen unseres Volkes und durch eine umfassende Unterrichtung über die Regierungspolitik jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken.

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Mitbestimmung, Mitverantwortung in den verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft wird eine bewegende Kraft der kommenden Jahre sein. Wir können nicht die perfekte Demokratie schaffen. Wir wollen eine Gesellschaft, die mehr Freiheit bietet und mehr Mitverantwortung fordert. Diese Regierung sucht das Gespräch, sie sucht kritische Partnerschaft mit allen, die Verantwortung tragen, sei es in den Kirchen, der Kunst, der Wissenschaft und der Wirtschaft oder in anderen Bereichen der Gesellschaft.

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Wenn wir leisten wollen, was geleistet werden muss, brauchen wir alle aktiven Kräfte unserer Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die allen weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen offen sein will, ist auf ethische Impulse angewiesen, die sich im solidarischen Dienst am Nächsten beweisen … Wir werden uns ständig darum bemühen, dass sich die begründeten Wünsche der gesellschaftlichen Kräfte und der politische Wille der Regierung vereinen lassen.

… … …

Die Regierung kann in der Demokratie nur erfolgreich wirken, wenn sie getragen wird vom demokratischen Engagement der Bürger. Wir haben so wenig Bedarf an blinder Zustimmung, wie unser Volk Bedarf hat an gespreizter Würde und hoheitsvoller Distanz. (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.) Wir suchen keine Bewunderer; wir brauchen Menschen, die kritisch mitdenken, mitentscheiden und mitverantworten. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Das Selbstbewusstsein dieser Regierung wird sich als Toleranz zu erkennen geben. (Lachen bei der CDU/CSU.) Sie wird daher auch jene Solidarität zu schätzen wissen, die sich in Kritik äußert. Wir sind keine Erwählten; wir sind Gewählte. (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.) Deshalb suchen wir das Gespräch mit allen, die sich um diese Demokratie mühen. Meine Damen und Herren, in den letzten Jahren haben manche in diesem Land befürchtet, die zweite deutsche Demokratie werde den Weg der ersten gehen. Ich habe dies nie geglaubt. Ich glaube dies heute weniger denn je. Nein: Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an.

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Stefan Weinert:

Die Sprengkraft dieser fünf Wörter “Wir wollen mehr Demokratie wagen“  liegt in der damaligen Unerhörtheit des Gedankens. Denn 1969 rebellierte die APO gegen die verkrusteten Strukturen des Bundestages. Die „demokratisch“ verordnete Polizei aber schlug auf sie ein und die devote Gesellschaft sah nur mit Beifall zu. Und nun der Bundeskanzler selbst, der ausdrücklich die kritische Mitsprache der Jugend billigt. Und das nicht nur an der „Gesellschaft allgemein,“ sondern mit dem „Wir“ bezieht der Sprecher sich, die von ihm zusammen gestellte Regierung und das gesamte Parlament mit ein. Brandt gesteht, dass die beschworene deutsche Demokratie noch lange nicht auch wirklich schon „Herrschaft  des deutschen Volkes“ ist, wissend und meinend, dass gerade das „Hohe Haus in Bonn“ dieser im Wege steht.

Die damalige deutsche Regierung fordert den Bürger nicht auf , an dem mitzuarbeiten und das voranzutreiben „was ist“, also den politischen Status Quo zu festigen und zu zementieren, sondern  sie  wendet sich an die kritischen Geister der damaligen Zeit und ermutigt diese, sich zu Worte zu melden. Heute würde man sagen, „sich zu outen.“ Und sie taten es, sie hatten es schon durch Rudi Dutschke, Rainer Langhans und die APO getan. Nun war es legitim und es war gut so.

Bundesarchiv Bild 183-1990-0316-035, Wismar, SPD-Wahlkundgebung, Willy Brandt.jpg

Wenngleich es womöglich auch etwas zu spät war und Jahre später von radikalen und militanten Kräften missbraucht wurde.  Denn eineinhalb Jahre zuvor – am 11. April 1968 – schießt der Neonazi Josef Bachmann am Kurfürstendamm 142 Rudi Dutschke, die charismatische Leitfigur der APO,  nieder. (Dutschke selbst hatte sich immer ideologisch zwischen Che Guevara und Jesus verortet. Seine amerikanische Frau Gretchen hatte Theologie studier).Zwar überlebt Dutschke dieses Attentat, doch ist er nicht mehr und kann er auch nicht mehr der „alte“ Rudi sein. Elf Jahre später, am Heiligen Abend 1979, stirbt Dutschke an den Folgen seiner schweren Hirnverletzungen im dänischen Aarhus, wo er mit Gretchen und den drei Kindern zurück gezogen gelebt hatte.  Es ist deshalb davon auszugehen, dass – hätte das Attentat von Rechts auf Dutschke nicht stattgefunden – Deutschland heute eine andere Republik wäre, als sich Rechte Kräfte von damals und heute gewünscht hätten.

1969 zerfiel die APO (Außerparlamentarische Opposition) in viele zerstrittene Splittergruppen. Der Tod des Studenten Benno Ohnesorg 1967, am Rande der Demonstrationen gegen den persischen Schah und das letztendlich auch tödliche Attentat auf Rudi Dutschke, führten mit zu Radikalisierung vieler Kräfte in der APO.  Die Besonnenen unter ihnen  wurden Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) oder versuchten auf anderen Wegen den Marsch durch die Institutionen. Aus der Protestbewegung heraus entwickelte sich in den Folgejahren aber eben auch ein militanter Flügel, aus dem sich die erste Generation der RAF und später die Bewegung 2. Juni (1972), die Revolutionären Zellen (1973) und die Rote Zora (spätestens 1977) entwickelten. Die RAF verstand sich als Teil des internationalen Antiimperialismus und war der Ansicht, dass der „bewaffnete Kampf“ gegen den so genannten „US-Imperialismus“ auch in Westeuropa geführt werden müsse.

Genau in diese Zeit hinein, ein Gespür haben für die „Zeichen der Zeit“, fällt der Satz Willy Brandts: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“   Es ist die ehrlich ausgestreckte Hand der Volksrepräsentanten hinaus in die aufgewühlte Republik.

Der schlichte Satz „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ ist aber auch deshalb so durchschlagend, weil er inmitten bürokratischer und ausladender Aussagen hinein gesprochen wurde. Abgesehen davon wird der Satz von dem dreifache „W“ dominiert:  Wir Wollen Wagen. Dieses Tautogramm  ist wie der Zucker, der die Medizin „mehr Demokratie“ vor allem für Dr. Barzel und die CDU/CSU versüßt.

Das war mutig und ein Risiko zugleich. Aber es war im Sinne einer wörtlich genommenen Demokratieentwicklung vollkommen richtig. Doch dem Deutschen Staat erging es – so sah es zumindest oberflächlich aus – ähnlich dem goethischen  Zauberlehrling, der am Ende rief: Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister werd ich nun nicht los.“  Bei Goethe wendet sich das Übel schnell, denn der gerufene Meister kommt umgehend und spricht mit durchschlagender Autorität: „In die Ecke, Besen, Besen! Seids gewesen. Denn als Geister ruft euch nur zu seinem Zwecke, erst hervor der alte Meister.“  Bei der RAF allerdings war es anders. 1970 von Andreas Bader, Gudrun Ensslin und Horst Mahler gegründet, verkündete die RAF erst 1998 ihre Auflösung.

Ich bringe allerdings Willy Brandts Regierungserklärung mit seinem schlichten Satz (es gab im Parlament weder Beifall noch Buuh-Rufe, nachdem er ihn ausgesprochen hatte, so überraschend kam er) nicht in einen kausalen Zusammenhang mit dem Entstehen der RAF. Und auch historisch gesehen gibt es ihn nicht. Denn wie schon dargelegt, waren der Besuch des Schahs und Benno Ohnsorgs Tod 1967 und das Attentat auf Rudi Dutschke  1968 bereits Nährboden für das entstehen der Bader-Meinhoff-Bande. Und vergessen werden darf auch nicht, dass die linksextremistische Rote-Armee-Fraktion auf deutschem Boden ihren Kampf gegen den „US-amerikanischen Imperialismus“ blutig durchführte. Vielmehr war Willy Brandts Satz samt seinem Kontext der Versuch, genau diese Eskalation zu verhindern.

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50 Jahre später heißt es in Deutschland etwas anders: Demokratie leben.

Hier handelt es sich nicht um die Aussage eines Politikers, sondern um einen Slogan der Bundesregierung, mit dem sie die Arbeit von gemeinnützigen Trägern, die mit ihrer Arbeit das Engagement des Bundes für Demokratie und Vielfalt und gegen Rechtsextremismus, Gewalt sowie Menschenfeindlichkeit stärken, verfestigen und etablieren will. Wichtige nichtstaatliche Organisationen sollen unterstützt und langfristig als Kooperationspartner der Regierung gestärkt werden. Des Weiteren sollen diese Träger besser vernetzt werden. Der Slogan impliziert: Unsere Demokratie ist gut und ausreichend, ir müssen sie nur auch leben und pflegen.

Folgenden Themenfeldern werden gefördert: Ausgewählte Phänomene gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Demokratiestärkung im ländlichen Raum; Radikalisierungsprävention; Engagement und Vielfalt in der Arbeits- und Unternehmenswelt; Demokratieförderung im Bildungsbereich; Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft; Stärkung des Engagements gegen Hass im Netz; Prävention und De-Radikalisierung in Strafvollzug und Bewährungshilfe.

Die Umsetzung des Programms liegt beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben. Die sach- und fachgerechte Programmbewertung übernimmt das Deutsche Jugendinstitut, das von Bund und Ländern finanziert wird.

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Stefan Weinert:

Es geht bei dem „Demokratie leben“ ausschließlich um die Unterstützung des Staates durch Bürgergruppen verschiedenster Benennung (Verein, Forum, Agenda, Gemeinschaft, Arbeitskreis, Plattform, Gruppe, Initiative usw.), um dessen Ziele zu erreichen. Das ganze firmiert unter der Bezeichnung „Ehrenamt“ oder besser „Ehrenamtliches Engagement“, wobei nicht immer klar ist, ob der ehrenamtlich engagierte Bürger in die Bresche springt, weil staatliche Einrichtungen diese Arbeit nicht leisten können, oder diese Arbeit nicht leisten wollen. Dieses ehrenamtliche Engagement ist grundsätzlich sicher wichtig, es reicht aber bei Weitem nicht, um „mehr Demokratie“ zu erreichen, es ist zudem „Opium des Volkes“  und hat seine Tücken. Kritik am Staat und seinen vorgegebenen Zielen, vor allem der Weg dahin mit seinen eingeschränkten Spielräumen, ist nicht erwünscht. Schon gar nicht erwünscht sind die berechtigten Hinweise an den Staat, dass er selbst für manche der zu bekämpfenden Übel aufgrund seiner laissez-fairen Politik und falsch verstandene Toleranz verantwortlich ist. Das Dulden von AfD, Pegida, Reichsbürgern und Identitären beispielsweise, macht die Forderung des Staates an seine Bürger, sich in Sachen „Radikalisierungsprävention“ (siehe oben) einzusetzen – im Kontext seines Versagens –  absolut skandalös und lächerlich. Wer so kritisiert, wird gewiss keine der in Aussicht gestellten Zuschüsse aus dem zuständigen Ministerium erhalten.

Der Aufruf zum ehrenamtlichen Engagement  suggeriert dem Bürger und gaukelt ihm vor, er sei an der Demokratie im Sinne von „Mitsprache und Mitgestaltung und Mitentwicklung“ beteiligt. Dem aber – so wie oben dargelegt – ist  nicht so. Denn statt „Mitsprache und Mitgestaltung und Mitentwicklung“ (Diskurs, Kritik, Hinterfragen, eigene Vorstellungen zur Diskussion bringen und auch mal durchzusetzen) muss es richtiger Weise „Mitarbeit und Zustimmung und Teilhabe am Establishment“ heißen.  

Willy brandt grave.jpg

Weiter fällt auf, dass nicht er einzelne Bürger (Brandt:  „jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken“.) in seinem ehrenamtlichen Engagement  gefragt ist, sondern nur die „bürgerliche Gruppe“, alos der Bürger der bereit ist, sich in einer Gruppe zu organisieren und sich ihr unterzuordnen – und das auch noch mit Einflussnahme und unter Aufsicht  des Staates und seiner Organe. Jedes Verwaltungsorgan, vom Bundesministerium bis zur Verwaltungsspitze der einzelnen Kommune ist erfreut, wenn sich angesichts öffentlicher Probleme lieber Agenden, Foren, Arbeits- und Freundeskreise bilden, als dass „Einzelkämpfer“ (die sie zu Recht fürchtet) die politische Bühne betreten.  Weiß sie doch um die gruppendynamischen und -psychischen Prozesse einer jeden Gruppe, die sie  zu einem zahnlosen Papiertiger mutieren lässt. Es ist zudem eine sozialpsychologische Erkenntnis, dass die Aktivität einzelner Personen in Gruppen mit zunehmender Größe abnimmt. Diese Scheindemokratie wird unter dem Einfluss des vom Staate verordneten ehrenamtlichen Engagements scheinbar zur ausreichend  „gelebten Demokratie.“

WILLY – WE MISS YOU! RIP!

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Grafikquellen     :

Oben       —       Willy Brandt; zwischen 1970 und 1974 bei einem Parteitag in Düsseldorf

2. von Oben     —        ADN-ZB-Sindermann-16.3.90 Wismar: Für eine neue deutsche Verfassung, die auf dem bewerten Grundgesetz der BRD aufbaue, hat sich der Ehrenvorsitzende der SPD beider deutschen Staaten, Willy Brandt, ausgesprochen. Auf einer Kundgebung in Wismar, mit der die SPD den Endspurt ihres Wahlkampfes im Norden der DDR einleitete, sprach er vor rund 30 000 Besuchern.

Ein Kommentar zu “Mehr Demokratie wagen !”

  1. Tomazs Renzci, Blieskastel sagt:

    Ja, was waren das noch für Zeiten. Und wohin sind die „gelebte Demokratie“ und die rotsockige SPD abgewandert? Mit Willy hatten wir 42 Prozent – mit Nahles 12. Was muss noch passieren, damit sich jemand hinstellt und sagt: WIR WOLLEN WIEDER DEMOKRATIE WAGEN!

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