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Medizin nach Postleitzahl

Erstellt von DL-Redaktion am Montag 24. Dezember 2018

Warum man in Bayern lieber keine Knieschmerzen
und in der Rhön besser kein Bauchweh haben sollte

Peter Stehlik 2009.10.15 004.jpg

Von Bernd Hontschik

Er war Oberarzt an der Chirurgischen Klinik am Städtischen Krankenhaus Frankfurt am Main-Höchst und betrieb eine chirur­gische Praxis in der Frankfurter Innenstadt. Er ist Heraus­geber der Taschenbuchreihe „medizinHuman“ im Suhrkamp Verlag und schreibt Kolumnen für die Frankfurter Rundschau.

Vor dreißig Jahren veröffentlichte die US-amerikanische Medizinjournalistin Lynn Payer verblüffende Erkenntnisse über den Vergleich der Medizin in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und den USA. Sie fand heraus, dass nirgends so viele Herzen krank sind wie in Deutschland, dass nirgends so viele Darmerkrankungen wie in Großbritannien diagnostiziert werden, dass es nirgends so viele Medikamente gegen Erkrankungen der Leber gibt wie in Frankreich und dass nirgends so viele Herzkatheteruntersuchungen durchgeführt werden wie in den USA. Die gleichen Symptome werden in Frankreich so und in Deutschland ganz anders gedeutet. Die gleichen Krankheiten werden in den USA so und in Großbritannien ganz anders behandelt. Payers Schlussfolgerung lautete: Die Medizin kennt keine Objektivität. Zwar ist es sowieso fraglich, welche Rolle „Objektivität“ in der Medizin überhaupt spielt. Die Medizin ist keine objektive, sie ist keine Naturwissenschaft, sondern sie verwirklicht sich in der Anwendung, in einer Beziehung. Dass die Medizin aber auch eine spezifisch nationale Angelegenheit ist, erregte großes Aufsehen. Payer versuchte, diese Differenzen zunächst mit unterschiedlichen medizinischen Traditionen zu erklären. Andere Besonderheiten konnte sie auf unterschiedliche Vergütungssysteme zurückführen. Außerdem postulierte sie noch eine weitere, eher unbestimmte Ursache, die sie „nationale Eigenheiten“ nannte.

Es gibt aber auch innerhalb der Nation erstaunliche Unterschiede. In Lüchow-Dannenberg werden vier- bis fünfmal mehr Bypass-Operationen vorgenommen als in Nordfriesland, in Jena oder im Schwarzwald. In Ravensburg wird doppelt so oft an der Prostata operiert wie im Allgäu. In Aurich wird die Gebärmutter nur halb so häufig entfernt wie im unmittelbar benachbarten Emsland. Leistenbruchoperationen sind an der Mosel viel häufiger als in Regensburg. Am Wurmfortsatz des Blinddarms wird in der Rhön viermal öfter operiert als in Frankfurt am Main. Pro 10.000 Kinder werden zwischen 14 und 109 Gaumenmandeln operiert, und in Passau dreimal häufiger als in München. Pro 10.000 Einwohner werden zwischen 73 und 214 künstliche Kniegelenke implantiert, nirgends so häufig wie in Bayern.

Diese Aufzählung ließe sich noch weiter fortsetzen. Der Grund für diese seltsamen Differenzen kann nicht in unterschiedlichen medizinischen Traditionen liegen, denn das alles spielt sich zur gleichen Zeit im selben Deutschland ab. Auch das Vergütungssystem ist überall in Deutschland gleich und erklärt solche Unterschiede nicht. Es muss also etwas mit speziellen Qualifikationen oder Vorlieben der handelnden Ärzt*innen vor Ort zu tun haben.

So könnte man beispielsweise meinen, zwischen 2007 und 2012 sei in Deutschland eine Rückenschmerz-Epidemie ausgebrochen. Die Zahl der Krankenhausaufenthalte wegen Rückenschmerzen stieg in dieser Zeit um mehr als 70 Prozent an, und die Zahl der Rückenoperationen stieg von 452.000 auf 772.000 an, also auch um mehr als 70 Prozent. Dieses Phänomen betrifft das ganze Land und ist die Folge eines neuen Vergütungssystems, einer überaus guten Bezahlung dieser Diagnose und dieser Operationen.

Quelle          :      TAZ           >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen      :

Oben      —        Städtische Kliniken Frankfurt-Höchst, Haupthaus mit der alten Rettungswagenanfahrt und der ehemaligen Poliklinik

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