Mahdi erklärt Somalia
Erstellt von DL-Redaktion am Mittwoch 20. September 2017
Eine Reise zum vergessenen Horn von Afrika
von Andrea Böhm
Im 14. Jahrhundert war das Sultanat von Mogadischu ein florierendes Handelszentrum an der ostafrikanischen Küste. Heute gilt Somalia als Negation von allem, was die westliche Welt mit Staatlichkeit, Ordnung, Fortschritt und Modernität verbindet.
Ein Freund, der ein paar Jahre in Mogadischu gelebt hat, hatte mit dem Kugelschreiber grob einige Orte skizziert: Den Aden Adde International Airport; den Strand, an dem einst US-Soldaten gelandet sind; den Bakara-Markt, auf dem es alles zu kaufen gibt, wenn nicht gerade geschossen wird; das Abdi-Haus, in dem es zu einem tödlichen und für die Welt folgenreichen Missverständnis kam. Ich habe einen weiteren Ort hinzugefügt. Den Lido-Club aus dem Roman „Maps“ des somalischen Schriftstellers Nuruddin Farah, der im Mogadischu der 1970er Jahre spielt. „Es war Freitag“, heißt es da an einer Stelle. „Das Auto stand auf dem Parkplatz vor dem Lido Club. Salaado war ins Clubhaus hineingegangen, um drei Portionen Eiscreme zu holen.“
Es ist meine erste Reise an das Horn von Afrika. Dieses bekritzelte Papier gibt mir das Gefühl, auf unbekanntem Territorium ein paar Orientierungspunkte zu haben. Der Flughafen ist mein Notausgang, der Strand mein historischer Bezugspunkt, der Bakara-Markt ein Barometer für die Sicherheitslage, das Abdi-Haus ein konkretes Ziel. Und die Zeilen Farahs über den Lido-Club sind gut für meine Nerven. Die Vorstellung beruhigt mich, dass Bewohner dieser Stadt vor nicht allzu langer Zeit friedlich zu einer Eisdiele schlenderten – mit nichts anderem beschäftigt als der Wahl zwischen Vanille und Stracciatella.
Weißer Sand und blaues Meer. Scheinbar endlos gleitet die Maschine von Jubba Airways entlang der Brandungswellen des Indischen Ozeans, bevor sie unweit zerschossener Häuser landet. Auf dem Rollfeld warten meine Gastgeber, ein Deutscher mit Bürstenhaarschnitt namens Volker Rath und ein rundlicher Somalier namens Mohamud Ali Diriye. Rath ist Projektleiter von Cap Anamur, einer der wenigen ausländischen Hilfsorganisationen, die zu diesem Zeitpunkt noch in Mogadischu arbeiten.
Der Übersetzer Diriye, den alle nur Mahdi rufen, verschwindet mit meinem Pass und dem Visumformular, auf dem Namen, Geburtsdatum und das Fabrikat mitgeführter Schusswaffen einzutragen sind. Rath nutzt die Wartezeit, um auf Sehenswürdigkeiten hinzuweisen: ein Flugzeugwrack, das eine islamistische Miliz mit dem harmlos klingenden Namen „al-Shabaab“ – auf Deutsch: „die Jugend“ – mit Mörsergranaten durchlöchert hat, sowie zwei gepanzerte Fahrzeuge der Afrikanischen Union, deren Soldaten die Miliz seit Jahren bekämpfen. Sie haben es immerhin geschafft, al-Shabaab aus Mogadischu zu vertreiben. Die rächt sich seitdem mit Bombenanschlägen im Stadtzentrum.
Bewaffneter Begleitschutz ist Pflicht, und so klettern drei Männer mit Kalaschnikows auf die Ladefläche unseres Pick-ups, bevor der Fahrer Gas gibt Richtung Innenstadt. Kaum gelandet, fühle ich mich völlig fehl am Platz und zugleich genau am richtigen Ort. Ich werde mich in Mogadischu weder frei bewegen noch allein zurechtfinden können. Und doch ist dies ein idealer Ausgangspunkt für mein Unterfangen: die Konturen einer neuen mappa mundi zu erkunden. Am Horn von Afrika hat sich das christliche Abendland und später der Westen seine Weltordnungen ausgemalt. Zuerst in Gestalt des Priesterkönigs Johannes, der hier die vermeintlich einzige Zivilisation, das Christentum, gegen die vermeintliche Barbarei, den Islam, verteidigt haben soll. Rund 500 Jahre später durch die USA, die hier mit einer neuen globalen Ordnung scheiterten.
„Die Jungs sind absolut zuverlässig“, sagt Mahdi, nachdem wir das Haus von Cap Anamur erreicht haben, und deutet auf die schlaksigen Bewacher. „Der Kommandant gehört zum selben Sub-Klan wie ich.“ Vor dem Eisentor befindet sich ein Schlagbaum, auf den Mauern ist Stacheldraht gespannt. Der Wachschutz besteht aus Mahdis „Jungs“, einem Trupp somalischer Soldaten. Sie verdienen als privater Sicherheitsdienst mehr Geld als in der Armee, die ohnehin nur auf dem Papier existiert. Für die Zeit meines Aufenthalts kann ich mir die Mannschaft zum Freundschaftspreis von 260 Dollar pro Tag ausborgen. Vorausgesetzt, die Sicherheitslage lässt es zu, das Gelände zu verlassen.
Zwei Tage nach meiner Ankunft bekomme ich die erste Stadtführung. Von der Kathedrale, Erbe der italienischen Kolonialherren, stehen ein paar Außenmauern, das Dach fehlt, einer der Türme ragt in den Himmel wie ein angenagter Knochen. Auf dem Tarabuunke-Gelände, einstmals der Ort für Militärparaden, hängen die Dachträger der Zuschauertribünen wie abgebrochene Zweige über den durchlöcherten Ehrenlogen.
Mehr noch als der Anblick der Ruinen verstören mich das Licht und die Farben. Sonne, Salz und Wind haben scharfe Kanten und Risse geschliffen und die zertrümmerten Häuser samt der Reklame an den Ladenfronten zu Pastelltönen gebleicht. Afrikas handgemachte Werbung ist eine Kunst für sich. Wo es keine Schaufenster gibt, wird das Warenangebot groß und bunt an die Fassaden gemalt. Die mannshohe Flasche roten Hustensafts an der Wand einer Apotheke hat gleich mehrere Kugeln in den Bauch abbekommen; an der Ruine eines Lebensmittelgeschäfts ist eine durchsiebte Packung Trockenmilch zu erkennen. Von einer Zahnarztpraxis steht noch eine Mauer mit dem Abbild eines riesigen Backenzahns.
„Ich kann dir problemlos ein hübsches Grundstück besorgen“, sagt Mahdi. „In guter Lage.“ Mahdi verdient sein Geld nicht nur als Verbindungsmann für ausländische NGOs, sondern auch als Makler. Ich habe keine Ahnung, was man in Mogadischu unter „guter Lage“ versteht. Jedenfalls steigen seit dem Abzug von al-Shabaab die Grundstückspreise rapide an. Die Stadt ist gleichzeitig ein riesiges Flüchtlingslager und ein riesiger Immobilienmarkt. Wohlhabende Somalier kehren aus dem Exil zurück, die Baubranche boomt. Solche Aufbruchstimmung hat es immer wieder gegeben – bis sie in einer weiteren Kriegsrunde samt den neu errichteten Häusern wieder zusammenfiel. Wer hier reich werden will, handelt mit Waffen oder Zement. Oder mit beidem.
Vor den Trümmern der Zuschauertribünen am Tarabuunke-Gelände hat jemand unter freiem Himmel eine Fahrradwerkstatt aufgemacht. Jungen aus dem gegenüberliegenden Flüchtlingslager liefern sich Wettrennen, während ihre Mütter in der sengenden Sonne zwischen Hütten aus Ästen, Plastik und Decken Wasserkanister schleppen und verrußte Kochtöpfe schrubben. Die Männer hocken unter einem Wellblechdach und erzählen ihre Geschichten: Wie ihre letzten Ziegen, Schafe oder Kühe in der Dürre verendet sind, wie sie mit ihren Familien auf der Flucht aus dem Hinterland über Tage oder Wochen marschiert sind und nur haltgemacht haben, wenn wieder ein Kind zu begraben war. Dass sie seit Generationen wissen, wie man Trockenperioden übersteht. Dass aber irgendetwas nicht mehr stimmt mit dieser Welt, mit Gu und Deyr, den beiden Regenzeiten, die immer öfter ausfallen. Ich frage Mahdi nach dem somalischen Wort für Klimawandel. Er zuckt mit den Schultern. Gibt es noch nicht.
Mahdi sehe ich nie mit einer Waffe, sondern immer mit dem Handy in der Hand. Er spricht Somali, Englisch, Arabisch und Deutsch. „Vier Jahre Ilmenau in Thüringen“, sagt er. Dort hat er in den 1980er Jahren Biomedizinische Kybernetik studiert. Damals gab es die DDR noch, und Somalia galt als sozialistisches Bruderland. Erstere ist längst abgewickelt, von Letzterem sind Fragmente geblieben, und Mahdi hat von Biomedizin zunächst auf Elektrotechnik und dann auf den Handel mit Informationen, Immobilien, Privatschutz und Vieh umgesattelt. Eine politische Karriere, inschallah, sagt er, sei nicht ausgeschlossen. Seine frömmelnde Geschäftigkeit ist mir etwas unheimlich. Dann lerne ich seine Frau kennen.
Auf unserer ersten Stadtrundfahrt halten wir im Benadir-Krankenhaus. Das Gebäude zeigt erstaunlich wenig Spuren der Zerstörung. Die chinesische Regierung hat es in den 1970er Jahren mit einer Kapazität von 600 Betten, Wasser- und Stromversorgung und stabilen Außenmauern bauen lassen. Im Dienstzimmer der Kinderstation türmen sich Medikamentenkisten, Krankenschwestern schneiden weißen Stoff von einer Rolle. Sie brauchen ein Leichentuch für ein zweijähriges Kind. Die Stationsärztin und ihr Mann haben einen ganzen Ballen gespendet, manchmal geben sie auch das Geld für das Begräbnis. „So was“, sagt Mahdi, „kann bis zu 50 Dollar kosten.“ Die Ärztin ist seine Frau, Doktor Lul Mohamed Muhammud.
Doktor Lul, klein und rundlich, gleitet in ihrem knöchellangen Umhang wie eine dicke Glocke über den Stationsflur. Auch bei 35 Grad Hitze zupft sie nicht ein einziges Mal an ihrem Hidschab, der sich wie eine Skihaube eng um Kopf und Hals schließt. Sie ist 49 Jahre alt und hat wie ihr Mann in Deutschland studiert. Ihre Kinderabteilung ist zum Zeitpunkt meines Besuchs die einzige funktionierende in einer Stadt mit geschätzten 1,3 Millionen Einwohnern und mehreren hunderttausend Flüchtlingen. Bei der großen Hungersnot Anfang der 1990er, sagt Doktor Lul, sei die Lage besser gewesen. „Es gab anständige Zelte für die Flüchtlinge und viel mehr Helfer.“ Damals war die Stadt noch nicht völlig zerstört. Kamerateams aus dem Ausland fuhren durch die Straßen und berichteten über die Misere. Aber dann, sagt Doktor Lul, sei eben „die Sache mit den Amerikanern passiert“.
Quelle : Le Monde diplomatique >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Am Strand