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RENTENANGST

Macht und Ohnmacht

Erstellt von Redaktion am Mittwoch 20. September 2017

Demoskopie
Die beiden Meinungsforscher Gerrit Richter und Matthias Jung streiten um das bessere Konzept.

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Elisabeth Noelle-Neuman – Sie gilt als Pionierin der Demoskopie in Deutschland 

Richter gilt als Newcomer, Jung als etablierter Kanzlerinflüsterer.

von Stefan Reinecke

Die erste Nummer ist unbrauchbar. Ein Mann, der gerade Auto fährt. Die zweite auch – „keine Lust“, so die knappe Antwort. Michael Niedermayr gibt in den PC ein: „Unwirsch, verweigert alles.“ Die Nummer wird die Forschungsgruppe Wahlen (FGW) trotzdem nochmal kontakten. Telefonnummern, bei denen jemand antwortet, sind wertvoll. Sie sind der Rohstoff, mit dem die Forscher aus Mannheim erkunden, was die Deutschen am Sonntag wählen wollen.

Niedermayr macht den (Neben-)Job als Interviewer seit zwölf Jahren. „Ich bin hier der Dino“, sagt er. Er sitzt in einem kleinen Zimmer in den Büroräumen der FGW in Mannheim. Weiße Wände, ein Dutzend Interviewer vor Bildschirmen, alle mit Headphones. Ein summendes, an- und abschwellendes Gemurmel füllt den engen Raum.

Niedermayr spult immer wieder den gleichen Text ab. „Wir bereiten das ZDF-Politbarometer vor. Ich möchte mit dem Wahlberechtigten sprechen, der als letzter Geburtstag hatte.“ Damit die Auswahl auch wirklich zufällig ist. Doch auch der Dritte will nicht.

„Manche“, sagt er, „fürchten, dass ihnen etwas verkauft werden soll.“ Mit dem Nächsten redet er fünf Minuten, erklärt geduldig, dass die Umfrage seriös sei. Wieder nichts. „Man muss gute Nerven haben“, sagt Niedermayr.

Der Rentner, 71, war früher Sozialarbeiter. Er weiß, wie man schwierige Gespräche führt. „Einige haben Angst sich zu blamieren, weil sie meinen, nichts über Politik zu wissen. Dann sage ich: Es gibt keine falschen Antworten.“ Aber auch das hilft nicht immer. Die Nächsten legen wortlos auf. „Stummklick“, schreibt er in die PC-Maske.

Der neunte Anruf. Eine auskunftsfreudige Hamburgerin. Die Kanzlerin findet sie gut, die AfD verachtenswert. Die Große Koalition wäre ihr am liebsten, Schwarz-Gelb auch nicht schlecht. Dass Flüchtlinge mehr Terrorismus bedeuten, glaubt sie nicht.

Die Meinungsforscher haben nach ein paar Minuten viele Informationen, die streng anonymisiert werden. Ein soziales Cluster: selbstständig und evangelisch, nutzt Facebook und Smartphone, geht selten in die Kirche. Eine Wählerin, wie gemalt für die Merkel-CDU.

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Eine Etage höher sitzt der Chef der Forschungsgruppe Wahlen an einem großen Resopaltisch in einem nüchtern eingerichteten Büro. Matthias Jung ist 60 Jahre alt, hat aber etwas Jugendliches, Vitales. Jung ist eine Art Dinosaurier der Branche. Seit 30 Jahren recherchiert der CDU-nahe Demoskop, was die Bürger wollen. Manche halten ihn für den Kanzlerinflüsterer, der Merkel mit den Zahlen versorgt, die zeigen, dass ihr Kurs funktioniert: Richtung Mitte. Dass die Union nur erfolgreich ist, wenn sie liberal auftritt, offen. Weil es eben viele gibt, die wie die Hamburger CDU-Wählerin ticken.

Jung hat den sperrigen Begriff „asymmetrische Demobilisierung“ erfunden. Das ist die Zauberformel, mit der Angela Merkel auch 2017 wieder SPD und Grüne bekämpft. Sie übernimmt ein paar Kernforderungen der Konkurrenz, vom Mindestlohn über den Atomausstieg bis zur Ehe für alle, und schläfert so deren Anhänger ein. Vielleicht war seit Elisabeth Noelle-Neumann, der Gründerin von Allensbach, kein Meinungsforscher so wichtig für Regierende wie der forsche FGW-Chef.

Herr Jung, haben Sie Einfluss auf Merkel?

„Das wüsste ich auch gerne.“ Er lacht die Frage weg.

Nutzen Meinungsumfragen der Demokratie?

„Das ist mir zu pathetisch“, sagt Jung. Die politische Klasse begreife oft nicht, was Wähler wollen. „Wir leisten einen Beitrag zur besseren Wahrnehmung der Realität.“

Wer ihm zuhört, hat den Eindruck, dass Meinungsforscher ungefähr so viel Auswirkung auf Politik haben wie Postboten auf ihre Kunden. Sie liefern nur Briefe ab, sie schreiben sie nicht.

Viele Institute betreiben Politdemoskopie eher deshalb, um bekannt zu sein. Geld machen sie mit Marktforschung. FGW ist die Ausnahme. Politumfragen sind das Kerngeschäft, nicht bloß das Klingelschild. FGW macht auch keine gemischten Umfragen, bei denen die Bürger erst bekunden sollen, was sie von der Flüchtlingspolitik halten und dann, ob sie ihren Netzanbieter wechseln wollen. Und FGW veröffentlicht, transparenter als die Konkurrenz, auch Rohdaten – das ungefilterte Ergebnis der rund 1.300 Zufallsinterviews. Die Branche verändert sich. Vor 20 Jahren fragten Emnid, infratest, Allensbach, FGW und Forsa die Bundesbürger. Umfragen wurden meist monatlich veröffentlicht. 2017 sind insa, civey und Yougov hinzugekommen. Die Taktung ist dichter geworden. Manchmal wird jeden Tag eine Sonntagsfrage publiziert. Politumfragen wuchern wie Efeu.

Und sie tauchen in Leitartikeln und Kommentaren öfters als stichhaltige Fakten auf. Wer darlegen will, welche Schwächen oder Stärken die SPD hat, muss nicht mehr Programm und Wirklichkeit nachmessen – es reicht der Verweis auf Umfragen. So entsteht eine Rückkopplungsschleife: Sinken die Umfragewerte, werden die Schlagzeilen mies, sind die Medienberichte negativ, sinken die Umfragewerte. Der Schulz-Hype – im Februar steil nach oben, im Frühsommer steil nach unten – war auch ein Effekt dieser sich gegenseitig verstärkenden Rückkopplungen von Medien und Demoskopie. Die Frankfurter Allgemeine, Flaggschiff des Seriösen, platzierte am 21. Juni 2017 eine Umfrage als Aufmacher auf Seite 1. Vor 20 Jahren wäre das kaum vorstellbar gewesen. Der Diskurs, der Streit der Argumente, weicht einer Art Sportberichterstattung.

Dem Sog, den Umfragen auslösen, können sich vor allem Politiker nicht entziehen. Ein Parteichef klagte im Sommer in einer Hintergrundrunde vor Hauptstadtjournalisten bitter, dass „Umfragen die einzige Währung sind, die noch zählt“. Die ausgefeilte Kampagne, das differenzierte Wahlprogramm, ein Erfolg im Untersuchungsausschuss, die schwungvolle Rede im Bundestag – das alles schrumpft zur Randerscheinung, wenn die Umfragen mies sind. Und alles, was Politiker dann sagen, wirkt wie Ausrede, um die Erfolglosigkeit zu vertuschen, die fallende Umfragewerte ja irgendwie objektiv bezeugen. Natürlich ist die Verbitterung wie weggeblasen, sobald die Kurve bei Forsa oder FGW wieder nach oben zeigt.

Umfragen verändern die politische Kultur. Sie sind wie Glutamat. Sie verstärken die vorherrschenden Geschmacksrichtungen.

Der Verdacht, dass Umfragen zudem auch Wahlen direkt beeinflussen, ist fast so alt wie die Demoskopie. Für Matthias Jung, den Praktiker, ist klar, dass wir nur wissen, das wir nichts wissen: „Empirisch lässt sich nicht nachweisen, dass Umfragen das Wahlverhalten beeinflussen.“ Deshalb hat er seine Auftraggeber im ZDF schon vor Jahren überzeugt, auch kurz vor der Bundestagswahl noch Zahlen zu veröffentlichen. Bis 2013 war es in Deutschland Usus, dass ARD und ZDF dies nicht tun.

Dass Demoskopie Wahlen beeinflusst, dafür fehlt der triftige Beweis. Aber es gibt Hinweise. Zwei Drittel der Wähler – Männer mehr als Frauen – kennen die Umfragen. 2013 lag die FDP in den Wochen vor der Bundestagswahl in keiner Befragung unter fünf Prozent. Bild veröffentlichte sogar noch am Wahlsonntag eine Zahl – FDP sechs Prozent. Es ist keine kühne Vermutung, dass dies manche liberal-konservative WählerInnen zu dem Schluss verleitete, ihr Kreuz bei der Union zu machen, weil die Liberalen ja keine Leihstimmen brauchen. Es kam anders – die FDP scheiterte an der Fünfprozenthürde, weil ihr ein paar zehntausend Stimmen fehlten. Sind Umfragen also doch nicht harmlos? Sondern Echokammern, die den Ton selbst ändern?

Quelle   :    TAZ >>>>> weiterlesen

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Grafikquelle     :

Elisabeth Noelle-Neuman – Sie gilt als Pionierin der Demoskopie in Deutschland

Es folgt die historische Originalbeschreibung, die das Bundesarchiv aus dokumentarischen Gründen übernommen hat. Diese kann allerdings fehlerhaft, tendenziös, überholt oder politisch extrem sein. 12.4.1991 Tagung der Ludwig-Erhard-Stiftung im Hotel Königshof – Verabschiedung des alten Vorsitzenden der Ludwig-Erhard-Stiftung MD a.D. Dr. Karl Hohmann, Begrüßung des neuen Vorsitzenden Staatssekretär Dr. Otto Schlecht (Amtswechsel am 1.3.1991)

 

 

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