Libyen ist nicht mehr
Erstellt von DL-Redaktion am Sonntag 9. April 2017
Keine Ahnung von Demokratie
Zu groß die Schuhe – für so kleine Füße !
Autor : Tom Stevenson
Im März 2011 griff westliches Militär in den libyschen Bürgerkrieg ein, im Oktober war Diktator Gaddafi tot. Heute sind Chaos und Gewalt dort alltäglich. Den Kämpfern geht es nicht mehr um Ideologien, sondern ums Geschäft: Schmuggel, Erpressung und Mord.
Der Westen habe „ehrenwerte, schnelle und rechtzeitige Hilfe“ geleistet, konnte man vor sechs Jahren in der britischen Tageszeitung The Times lesen. Geholfen wurde damals den libyschen Rebellengruppen, die im Arabischen Frühling gegen das Gaddafi-Regime aufbegehrten. „Eine gute Tat in einer müden Welt“ nannte der Leitartikel die militärische Intervention zugunsten der Rebellion
Fünfeinhalb Jahre nach Muammar al-Gaddafis Tod im Oktober 2011 steht Libyen in einer Reihe mit Ländern wie Afghanistan und Somalia, über die wir wenig erfahren, es sei denn, die USA haben wieder einen Drohnenangriff zu vermelden. Der Sturz Gaddafis führte rasch zur Implosion des libyschen Staats. Die alte Kluft zwischen Tripolitanien im Westen und den Städten der Kyrenaika im Osten des Landes ist erneut aufgebrochen. Verfeindete Milizen haben Libyen in Stücke gerissen. Waffenhändler machen Geschäfte wie seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht mehr. Und die Kontrolle über Ölquellen und Pipelines haben inzwischen paramilitärische Banden übernommen.
Seit 2014 gibt es zwei rivalisierende Regierungen, von denen keine wirklich regiert. Algerische und tunesische Dschihadisten können sich ungehindert bewegen. Der „Islamische Staat“ (IS) hat seine mächtigste Satellitenprovinz in Gaddafis alter Hochburg Sirte etabliert, wo die Hauptmoschee der Stadt nach dem Gründer der Terrormiliz, Abu Mussab Sarkawi, benannt ist und wo öffentliche Hinrichtungen von „Hexen“ stattfinden.
Neu aufgeflammt sind auch die Fehden zwischen mindestens einem Dutzend Städten und Stammesgruppen, die zu Gaddafis Zeiten eingeschlafen oder beigelegt waren. Zum Beispiel zerstörten Rebellentruppen aus der Industriestadt Misrata bereits im August 2011 die benachbarte Kleinstadt Tawurga, deren Einwohner bis heute über ganz Libyen verstreut in Flüchtlingslagern leben.
Flipflops und Kalaschnikows
Der vom Westen vorangetriebene Regimewechsel endete im Desaster: 400 000 von insgesamt 6 Millionen Libyern sind zu Binnenflüchtlingen geworden, mehr als eine Million ins Ausland geflohen. Die vielschichtigen Konfliktebenen – zwischen Regionen, Ethnien, Glaubensrichtungen und Stämmen sowie zwischen Anhängern und Gegnern des alten Regimes – überlagern und verstärken sich gegenseitig. Libyen ist heute ein Land, das mehrere Regierungen und zugleich keine hat: Rivalisierende Institutionen – mit bombastischen Titeln wie Regierung der Nationalen Einheit, Regierung der Nationalen Rettung oder Repräsentantenhaus – machen sich das Recht streitig, einen Staat zu repräsentieren, den es nicht mehr gibt.
In der alten Hauptstadt Tripolis sind die eigentlichen Machthaber die Milizen, die die Straßen unsicher machen. Das Land insgesamt wird von zwei zunehmend verfeindeten Blöcken dominiert. Der eine herrscht im Osten und besteht aus Einheiten der alten Armee mit einem alternden General an der Spitze; der andere kontrolliert den Stadtstaat von Misrata im Westen und ist eine Allianz aus den Kaufmannseliten verschiedener Stämme. Beide Blöcke haben nur ein Ziel: bei der nächsten Runde brutaler Kämpfe die Hauptstadt zu erobern.
In Tripolis ist der Verfall überall spürbar. Die Kräne um den zementgrauen Rohbau, der einmal das Interconti werden sollte, stehen seit sechs Jahren still. Am Stadtrand ragen unfertige, aber schon zerfallende Hochhäuser in den Himmel, daneben zerbombte Bauruinen. An den Mauern sind noch die Slogans aus der Zeit vor dem Aufstand zu entziffern.
Es gibt auch Wohlstandsoasen, saubere Straßen, wie man sie in einem langweiligen französischen Provinzstädtchen erwarten würde; aber gleich daneben erinnert das heruntergekommene Straßenbild wieder an die ärmsten Slums einer afrikanischen Metropole. Allerdings starren hier überall die Porträts gefallener Kämpfer von verblichenen Plakaten, die einst im Siegesrausch auf die Reklamewände am Straßenrand gepappt wurden.
In den ärmeren Vierteln von Tripolis stehen die Menschen jeden Abend
in langen Schlangen für Brot an. Die Märkte, die früher unter staatlicher Aufsicht standen, sind seit sechs Monaten geschlossen. Seitdem haben sich Lebensmittelpreise verdreifacht. Selbst in den besseren Wohngegenden sind viele Straßen nicht asphaltiert oder von Schlaglöchern übersät und mit Schlamm bedeckt. Auch die Kanalisation ist kaputt, sogar ein kurzer Regenschauer setzt Nebenstraßen unter Wasser und spült die Autos auf der Ringstraße zu Dutzenden von der Piste.
Derzeit ist der Strom 14 Stunden am Tag abgestellt. Aber Mitte Januar war das ganze Land von der tunesischen Grenze bis nach Bengasi einmal länger als 24 Stunden ohne Elektrizität – eine Miliz hatte die Gasleitung zu einem Kraftwerk westlich von Tripolis blockiert. Bei der Stadt al-Chums sah ich, wie mehr als hundert Menschen Schlange standen, um ihre kleinen Gasflaschen auffüllen zu lassen.
In Tripolis stellen sich die Leute jeden Morgen vor den Banken an, in der meist vergeblichen Hoffnung, Libysche Dinar im Wert von etwa 50 Dollar abheben zu können. Wer Zugang zu Euros oder Dollars hat, tauscht lieber bei den Schwarzhändlern in der Medina. Die stehen in verdächtig aussehenden Gruppen am Essaah-Platz herum, in der Nähe der Goldhändler und der Cafés mit den italienischen Namen.
Reichere Leute reden vom Auswandern („Glauben Sie mir, wer abhauen kann, tut es“) und geben zu, dass sie die ganze Entwicklung bedauern („Es ist ein Chaos, das noch Jahrzehnte dauern wird; Gaddafi war kein Engel, aber . . .“). Ich unterhielt mich mit einem Bombenräumexperten, der viel riskiert hatte: nachts Flaggen für das „Freie Libyen“ aufgehängt und dann beim Aufstand aktiv mitgemacht. Jetzt plagen ihn Schuldgefühle: „Es waren andere Zeiten, aber im Rückblick frage ich mich: Wenn ich zu Hause geblieben wäre, ob dann Gaddafi an der Macht geblieben wäre? Und alles, was danach kam, vielleicht nie passiert wäre?“
Die einzigen Ordnungskräfte in Tripolis sind Verkehrspolizisten. Sie zucken nicht einmal zusammen, wenn vom anderen Ende der Straße ein Schuss zu hören ist. Das Eingangstor zum Innenministerium war nur von einem einzigen Mann bewacht. Er trug ein T-Shirt und ein Uniformbarett und eine Kalaschnikow. Als ich ihm sagte, ich sei mit dem Protokollchef verabredet, fragte er: „Wer ist der Protokollchef?“ Er wollte mich nicht auf die Probe stellen, sondern war einfach neugierig.
Drei Treppen höher, über zwei verlassenen Stockwerken, saß ein Hauptmann in einem schicken grauen Wollmantel hinter einem großen Schreibtisch und schaute sich im Fernsehen den John-Travolta-Film „Be Cool“ an. Immerhin war er zur Arbeit erschienen. Ein Großteil der libyschen Polizeikräfte existiert heute nur auf dem Papier. Ein Oberst beim Inlandsgeheimdienst erzählte mir, er und alle höheren Offiziere, die er kennt, würden nur einmal die Woche auftauchen, um ihren Gehaltsscheck abzuholen. Den kriegen sie nur, weil im Innenministerium dank des libyschen Öls selbst in Phasen heftiger Kämpfe immer noch ein bisschen Geld ankommt.
Die meiste Zeit verbringt der Oberst zu Hause. „Es ist zu gefährlich, es gibt null Sicherheit“, erläutert er, „es gibt keine Polizei, keine Armee, keine Disziplin, nur Flipflops und Kalaschnikows.“ Dann zählt er verurteilte Verbrecher auf, die 2011 während des Aufstands aus dem Gefängnis entkamen und heute bei den Milizen sind.
Der oberflächliche Eindruck von Ordnung in der Hauptstadt beruht auf einer brüchigen Vereinbarung zwischen den Chefs der vier Milizen, die in Tripolis das Sagen haben. Der ehemalige Gefängnisaufseher Haitham Tadschuri befehligt die größte Miliz, für die er viele seiner früheren Häftlinge rekrutiert hat. Der Salafistenscheich Abdulrauf Kara und seine Special Deterrence Force (SDF), meist Rada genannt, unterhält eine ausgedehnte Militärbasis am östlich der Hauptstadt gelegenen Flughafen. Die Nawasi-Brigade unter dem Kommando von Karas altem Verbündeten Mustafa Gadour hat ihr Hauptquartier in einer ehemaligen Reitschule. Der vierte Milizenchef heißt Abdul Ghani al-Kikli („Ghneiwa“) und hat seine Zentrale im Stadtteil Abu Salim.
Zur Miliz für eine neue Hose
Quelle : Le Monde diplomatique >>>>> weiterlesen
————————————————————————————————————–
Fotoquelle : This work is in the public domain in the United States because it is a work prepared by an officer or employee of the United States Government as part of that person’s official duties under the terms of Title 17, Chapter 1, Section 105 of the US Code. See Copyright.
Source | http://www.flickr.com/photos/statephotos/5550165172/sizes/o/in/photostream/ |
Author | U.S. Departament of State |