Land ohne Führung
Erstellt von Redaktion am Freitag 10. Februar 2023
Das Schweigen des Kanzlers
Die bitterste Enttäuschung und der größte Rückschlag für die gesamte Politik war nach meiner Meinung der Rückschlag in der Frage der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft.“ So bilanzierte Konrad Adenauer 1966, ein Jahr vor seinem Tod, das in seinen Augen größte Scheitern seiner Karriere im Gespräch mit dem Journalisten und späteren „Blätter“-Mitherausgeber Günter Gaus.[1] Und in der Tat: Wie recht der erste Kanzler der Republik damit hatte, erleben wir dieser Tage. Gäbe es heute tatsächlich eine funktionierende Europäische Verteidigungsgemeinschaft, gäbe es auch ein konzertiertes Vorgehen der Europäer – und damit kein stets verspätetes Agieren speziell der deutschen Bundesregierung, genauer: des Kanzlers, bei der Unterstützung der Ukraine.
„Wie können wir als Europäerinnen und Europäer, als Europäische Union in einer zunehmend multipolaren Welt als unabhängige Akteure bestehen?“, stellt Olaf Scholz selbst in seinem jüngst im US-amerikanischen Strategiemagazin „Foreign Affairs“ erschienenen Artikel „Die globale Zeitenwende“ die weit über den Ukrainekrieg hinausgehende zentrale Frage.[2] Und er gibt darin für sich und seine Regierung folgende Antwort: „Deshalb strebt Deutschland danach, ein Garant europäischer Sicherheit zu werden, so wie es unsere Verbündeten von uns erwarten, ein Brückenbauer innerhalb der Europäischen Union.“ Vergleicht man diesen Anspruch mit dem tatsächlichen Agieren des Kanzlers, kommt man zu einem fatalen Ergebnis: Von einem Brückenbauer innerhalb der EU kann keine Rede sein. Bald ein Jahr nach Beginn des Krieges ist das Verhältnis zu den Osteuropäern schwer beschädigt und auch um die so wichtige deutsch-französische Freundschaft ist es, 60 Jahre nach Abschluss des Élysée-Vertrages, denkbar schlecht bestellt. Und auch Scholz‘ Anspruch, ein Garant europäischer Sicherheit zu werden, wurde durch sein konkretes Verhalten wiederholt konterkariert. „Es ist an der Zeit, dass wir mehr Verantwortung übernehmen und Führung zeigen, um diese Ziele zu erreichen“, heißt es ebenfalls im neuesten SPD-Strategiepapier.[3] Gemessen daran ist speziell der Kanzler bisher gescheitert.
Im Kern geht es seit dem Beginn des russischen Eroberungskrieges am 24. Februar um die Überlebensfähigkeit der Ukraine. Die deutsche Politik leidet dabei unter einem eklatanten Kommunikations- und Erklärungsdefizit des Kanzlers. Seit seiner auch international beachteten Zeitenwenderede erweckte Scholz‘ anhaltendes Schweigen den Eindruck, dass er nicht bereit ist, die von ihm versprochene Führungsrolle zu übernehmen. Dabei leistet Deutschland durchaus eine massive Unterstützung der Ukraine, militärisch wie zivil. Doch bis heute ist weitgehend unklar, was die wirkliche strategische Ausrichtung der Scholzschen Politik ist. Will der Kanzler nur dafür sorgen, dass die Ukraine sich verteidigen kann? Oder will er es ihr ermöglichen, auch von Russland okkupierte Gebiete zurückzuerobern?
Um tatsächlich überzeugend zu sein, bedürfte es zunächst einer klaren Einschätzung der strategischen Lage, um davon ausgehend in einem zweiten Schritt zu bestimmen, welche Waffenlieferungen in welchem Umfang erforderlich sind – und auch geleistet werden können, ohne dass sich Deutschland selbst verwundbar macht.
Vor Russlands Frühjahrsoffensive
Tatsächlich ist die Lage am Boden dramatisch. Russland hat seine aktuelle Mobilmachung weitgehend abgeschlossen, Wladimir Putin stehen nun wieder enorme Mengen an neuen Soldaten zur Verfügung, die er ohne Rücksicht auf Verluste in den Kampf zu schicken bereit ist. Mit Beginn des Frühjahrs droht daher nach allgemeiner Einschätzung eine große russische Offensive, während der ukrainischen Armee zunehmend die Munition ausgeht. Die Zeit drängt also. Vor diesem Hintergrund ist es dringend erforderlich, die für die Ukraine bestmögliche Verteidigung zu organisieren. Doch seitens der Bundesregierung war ein entsprechendes Handeln lange nur bedingt zu erkennen. Zugespitzt formuliert musste man den Eindruck gewinnen, dass der Kanzler Dimension und Dramatik der von ihm selbst ausgerufenen Zeitenwende offenbar selbst nicht richtig begriffen hatte. Denn Olaf Scholz praktizierte stets viel zu lange das Gegenteil des Gebotenen, nämlich äußerste Zurückhaltung.
Nichts hat dies deutlicher gezeigt als die verheerende Leopard-Debatte. Mit der langen Nicht-Lieferung dieser Kampfpanzer stand die Fähigkeit der Ukraine zur Verteidigung des verbliebenen eigenen Territoriums in Frage, zumal da jetzt ja noch die Ausbildung der ukrainischen Soldaten erforderlich ist – und all das zu einem Zeitpunkt, da es ob einer möglichen massiven russischen Übermacht vielleicht auf wenige Tage ankommt.
Insofern ist vor allem eines unerklärlich, warum nämlich seitens der gesamten EU, aber nicht zuletzt seitens der selbsterklärten Führungsmacht Deutschland nicht bereits viel früher ein möglicher Einsatz von Kampfpanzern geprüft wurde.
Ja, mehr noch: Da der von Berlin bereits gelieferte Schützenpanzer Marder gerade in der Offensive nur im Verbund mit einem Kampfpanzer optimal agiert – während letzterer die gegnerischen Panzer bekämpft, bringt der leichtere Marder die Soldaten an die Frontlinie –, warf das Zurückhalten des Leopard die Frage auf, ob die Bundesregierung die Ukraine bei der Rückeroberung ihrer verlorenen Gebiete überhaupt unterstützen will. Das aber konterkarierte das Versprechen des Kanzlers, die Ukraine mit allem zu versorgen, was erforderlich ist. Oder, wie es im „Foreign Affairs“-Artikel heißt: „Die Welt darf nicht zulassen, dass Putin seinen Willen durchsetzt. Wir müssen Russlands revanchistischem Imperialismus Einhalt gebieten.“
Völlig zu Recht stellt der Kanzler bei seinem Agieren stets die Gefahr einer möglichen gar atomaren Eskalation in Rechnung. Allerdings zeigt der Fall von Cherson, dass selbst die Rückeroberung eines von Russland bereits annektierten Gebiets durch die Ukraine nicht dazu geführt hat – trotz der wiederholten Ankündigung Putins. Das gleiche gilt für die Lieferung von Mardern und anderen Panzern wie dem Gepard durch Deutschland. Insofern spricht sehr wenig dafür, dass es sich nach der Leopard-Lieferung anders verhält. Im Gegenteil: Laut einem Bericht des langjährigen Russland-Korrespondenten der „Newsweek“ gibt es schon seit Anfang März 2022 Gespräche zwischen den USA und China, um eine Eskalation des Krieges zu vermeiden. Dabei soll Peking mehrfach – und entscheidend – mäßigend auf Russland eingewirkt haben.[4]
Dennoch ist auch Scholz‘ zweite Leitlinie grundsätzlich richtig, nämlich stets nur in Absprache mit den Alliierten, insbesondere den Amerikanern, zu operieren. Indem der Bundeskanzler die Lieferung des Leopard davon abhängig machte, dass die USA ihren Kampfpanzer Abrams liefern, ging er voll ins Risiko – am Ende mit Erfolg. Allerdings, und das ist die Schattenseite seines Agierens, hat Scholz durch sein anhaltendes Zögern die öffentliche Meinung speziell in Ost-Europa massiv gegen sich aufgebracht. Gerade durch das Verschleppen der Entscheidung entstand der Eindruck, dass letztlich alles von Deutschland, abhängt. Sprich: Der Kanzler hat kommunikativ das Gegenteil von dem erreicht, was er wollte. Hätte Scholz am Ende nicht doch der Leopard-Lieferung zugestimmt, wäre Deutschland als der Hauptverantwortliche für eine mögliche Niederlage der Ukraine angesehen worden. Das dürfte am Ende den entscheidenden Ausschlag für die Leopard-Lieferung gegeben haben.
Wofür steht Olaf Scholz?
Denn nach wie vor ist ein langer Abnutzungskrieg wahrscheinlich, der zunehmend auch in den die Ukraine unterstützenden Staaten entschieden wird. Wie steht es um die Solidarität, lautet die Frage. Welches Regime nutzt sich schneller ab? Es geht also auch um die Resilienz der Systeme: Ist der demokratische Westen oder der autoritäre Osten durchhaltefähiger?
Quelle : Blätter-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Prime Minister Mateusz Morawiecki and the German Chancellor Olaf Scholz