Kriminalität in den Medien
Erstellt von Redaktion am Samstag 10. April 2021
Besser erst mal nachdenken
Eine Kolumne von Thomas Fischer
Die Flut der Nachrichten über Straftaten ist unermesslich und produziert auch manche Skurrilität. Wie soll man sich orientieren? Was ist Realität, was bloße Stimmung?
In der vergangenen Woche habe ich mich, kriminalistisch betrachtet, dreimal gewundert und einmal gefreut. Diese Zahlen sind vermutlich nicht zutreffend; es könnte auch mehr gewesen sein. Aber an diese Gelegenheiten kann ich mich definitiv erinnern. Das erste Mal Wundern trat bei Kenntnisnahme eines Tötungsverbrechens gegen ein Wirbeltier auf, genauer gesagt: einen Biber. Er wurde verwundet gefunden, ein mutmaßlicher Täter war entweder nicht vorhanden oder aber flüchtig und nicht aufzufinden. Die zuständige (Mord-)Kommission war, so die Meldung, davon überzeugt, dass ein Unfall oder ein Suizidversuch ausscheide. Ich habe seither nichts mehr von der Sache gehört.
Die zweite Gelegenheit zum Sich-Wundern ergab sich, als ich erfuhr, dass Herr Kirk Douglas, der kürzlich im Alter von 104 Jahren verstorbene Darsteller von Odysseus (1954), Spartacus (1960) und Vincent van Gogh (1956), vor geraumer Zeit vergeblich versucht hat, Frau Senta Berger zu küssen, eine Inge Meysel mit Hollywooderfahrung, die uns mit allerlei patenten Frauengestalten in so schönen Filmen wie »Junge Leute brauchen Liebe« (1961), »Immer Ärger mit dem Bett« (1961) und »Das ausschweifende Leben des Marquis de Sade« (1969) erfreute, aber auch mit Einblicken in die Welt des Verbrechens schockierte, zum Beispiel in »Wenn Killer auf der Lauer liegen« (1967), »Toll trieben es die alten Germanen« (1972) oder »Per Saldo Mord« (1975). Wir wollen uns hier weder zu Kirk Douglas, dem Erfinder des Grübchens, noch zu O. W. Fischer, einem stets hervorragend frisierten, aber vor 17 Jahren im Alter von 88 Jahren verstorbenen Künstler äußern, und auch »die schnelle Gerdi« (1989 bis 2004) soll uns nicht weiter interessieren, nachdem wir noch erwähnen wollen, dass sie auch »Mit fünfzig küssen Männer anders« (1999) sowie »Nette Nachbarn küsst man nicht« (2006) drehte, was aber in keinerlei tiefenpsychologischer Verbindung zu Kirk Douglas stehen dürfte.
Die dritte Gelegenheit war deutlich dramatischer und betraf einen auf den ersten Blick überaus unklaren Vorgang in der Elbestraße in Frankfurt, einer Örtlichkeit, wo, wie alte Rödelheimer und allfällige Nachtschwärmer auf der Durchreise wissen, nachts um zwei Uhr sehr selten pensionierte Oberstudienrätinnen flanieren und der Professor Immanuel Rath als gänzlich unbekannte Märchengestalt gelten kann. Dort sollen nämlich, einer viel verbreiteten Meldung zufolge, zwei (!) junge Männer (!) mit ihren (Plural!) »Geländewagen« einen 52-jährigen »Passanten« (Fußgänger) lebensgefährlich verletzt und zu töten versucht haben, als sie ihn »zunächst anfuhren und dann überrollten«, woraufhin sie das Weite suchten. Einer wurde auf der Flucht gestellt, der andere »stellte sich« in Offenbach. Das Opfer liegt schwer verletzt im Krankenhaus und ist nicht vernehmungsfähig.
Die freudige Gelegenheit ist schnell beschrieben: Ein 16-jähriges Mädchen verschwand, wurde von den Eltern als vermisst gemeldet, und tauchte kürzlich in Frankreich wohlbehalten wieder auf. Das »mutmaßliche« Gewaltverbrechen, dessen Umrisse sich in der Presse anzudeuten begannen, wurde wieder abgesagt. Im Internet freuten sich alle sehr für die armen Eltern.
Was haben diese Ereignisse gemein, und warum erwähne ich sie? Ich gehe davon aus, liebe Leser, dass ich Ihnen nichts wirklich Neues berichtet habe, sondern dass Sie, mehr oder weniger, mindestens so gut informiert sind wie der Kolumnist. Bevor jetzt in entlegenen Winkeln Ihres zentralnervösen Empörungszentrums eine leicht kribbelnde Unruhe hochsteigt, die sich in Kürze in dem Schrei »Verharmlosung!« Bahn bricht, lassen Sie mich sagen: Ja, ich bin ein Freund der Tiere und insbesondere der kuscheligen Biber. Nein, ich befürworte es nicht, wenn berühmte Frauenschwärme, Opernsänger oder Brezelbäcker mit oder ohne Grübchen über die Frauen in ihrem beruflichen oder sozialen Nahbereich herfallen. Ich bin ein dezidierter Gegner des Überrollens von Passanten, wenngleich nicht des Geländewagens an sich. Und ich bin wirklich sehr erfreut über jedes Gewaltverbrechen, das sich als Fantasie entpuppt.
Vorerst gibt es also nicht wirklich einen Grund zur Entrüstung. Ich bin ja auch allenfalls der Bote, und den soll man doch in Ruhe lassen, meinen ich und Herr Julian Reichelt. Andererseits ahne ich, dass die oben stehenden, leicht distanziert wirkenden Nacherzählungen bei vielen von Ihnen eine gewisse Unruhe erzeugt haben: Zum einen, weil man nicht weiß, was da kommt, und dem Kolumnisten allerlei zutraut, andererseits, weil die Schilderungen jenen vertrauten Klang der sogenannten »Empathie« vermissen lassen, der den Nachrichtenkonsumenten des 21. Jahrhunderts so wichtig geworden ist. Wir haben uns über »Empathie« schon des Öfteren unterhalten, und Sie wissen, dass damit eigentlich nicht das tränenumflorte »Mitleid« gemeint ist, das heutzutage in kurzen Fünfminutensprüngen durch das Leben der »Social Media« zu hüpfen pflegt. Sondern eher das soziale Einfühlen-Können in fremde Sichtweisen und Blickrichtungen, seien sie nun sympathisch oder nicht.
Eigentlich, das muss man sich einmal klarmachen, ist es nämlich deutlich wichtiger für unsereins als Menschen, sich in die Sichtweisen der Bösen, der Verbrecher, der Böswilligen und Unmoralischen einfühlen zu können. Denn von ihnen droht (uns) ja die Gefahr, nicht von den Lieben, Harmlosen, Kindlichen, Unterlegenen. Wer also von sich sagt, er sei völlig unfähig, sich in einen Straftäter oder schlechten Menschen »hineinzuversetzen«, stellt sich selbst ein erbärmliches Zeugnis aus.
Außerdem stimmt es ja gar nicht. Die begeistertsten Opferempathiker stellen sich ja gerade mit besonderer Leidenschaft die allerschlimmsten Dinge vor. Je mehr sie die Verworfenheit, Brutalität oder Abseitigkeit der Tätereigenschaften und des Tatverhaltens imaginieren, desto tiefer und reiner ist ihr Mitleid mit dem mutmaßlichen Opfer. Das Frappierende daran liegt weniger auf der allgemeinen, theoretischen Ebene: D sind solche Mechanismen der »Verarbeitung« und der Regulation von Gefühlen recht gut erforscht und vertraut. Eher erstaunlich ist es, dass auf der praktischen Ebene die meisten Menschen wirklich gut damit auskommen, über eine Begebenheit, welche sie kurzfristig auf das Heftigste bewegt, in Wahrheit fast nichts zu wissen!
Denn niemand kann ja ernsthaft behaupten, aus den eingangs zitierten Meldungen, wie sie in der Presse oder im Internet verbreitet wurden, sei ein auch nur halbwegs zutreffendes, realistisches oder vollständiges Bild entstanden. Das Gegenteil ist der Fall, und jeder halbwegs intelligente Mensch weiß das auch. Fast niemand würde sich, wenn es sich um ein Ereignis aus seinem sozialen Nahraum oder gar dem eigenen Leben handelte, mit einer solch erbärmlich schlechten Schilderung zufriedengeben oder behaupten, nun wisse man genug über die Sache, um sich stunden- oder tagelang darüber zu verbreiten und anderen Leuten mit unverlangten Weisheiten auf die Nerven gehen zu dürfen, wie die Geschehnisse zu bewerten seien und was sie uns über das Leben im Allgemeinen sagen.
Einmal probeweise gefragt:
Quelle : Spiegel-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Blinder Mann mit seinem Blindenführhund
Antonio Cruz/Abr – Agência Brasil [1]
A blind man is led by a guide dog in Brasília, Brazil.
- CC BY 3.0 brHinweise zur Weiternutzung
- File:Caoguia2006.jpg
- Erstellt: 24. September 2006
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Unten — Thomas Fischer auf der re:publica 2016
Ot – Eigenes Werk
Thomas Fischer (Jurist)
CC-BY-SA 4.0
File:Thomas Fischer-Jurist-rebuliva16.JPG
Erstellt: 4. Mai 2016
Erstellt am Samstag 10. April 2021 um 11:22 und abgelegt unter Deutschland_DE, Justiz-Kommentare, Kriminelles, Medien. Kommentare zu diesen Eintrag im RSS 2.0 Feed. Sie können zum Ende springen und ein Kommentar hinterlassen. Pingen ist im Augenblick nicht erlaubt.