Krieg in der Ukraine
Erstellt von DL-Redaktion am Montag 28. Februar 2022
Freiheit, du Traum der 90er Jahre
Von : Thomas Gerlach
Einst glaubte unser Autor, dass auch in der ehemaligen Sowjetunion Aufbruch und Freiheit möglich sind. Er fühlt sich getäuscht.
Das weiß ich jetzt: Die Sowjetunion, sie war nie tot. Sie hielt sich verborgen, in den Schädeln von Putin und Lukaschenko, in den Hirnen von „Patrioten“ und denen von Wirrköpfen im Donbass.
Ein einziges Mal war ich in der Sowjetunion. Das war im Oktober 1991. Ich wollte das Land von Gorbatschow kennenlernen. Der KPdSU-Generalsekretär hatte mein Leben verändert. Seit 1985 lagen so viele Hoffnungen auf diesem Mann. Er hatte das sowjetische Imperium in einen Ort der Hoffnung verwandelt. Das Politbüro mit seinen Greisen hatte keine Macht mehr. Die Jahre der Stagnation, unterbrochen nur von Terror nach innen und Einmärschen in benachbarte Länder, waren vorüber. Die KP-Greise wurden beerdigt. Der Spuk war vorbei. „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen!“, hatten uns unsere Geschichtslehrer eingebläut. Jetzt gaben wir es ihnen lachend zurück.
Es war eine wunderbare Reise. Wir sausten mit der Raketa, einem Tragflächenboot, über den Dnjepr, wir herzten Babuschkas, tranken aus Brunnen und sangen, beseelt vom Wodka, „Abende an der Moskwa“. Der Himmel über Belarus leuchtete jeden Abend tiefrot. Wir waren übermütig, wollten bis zum Reaktor von Tschernobyl vordringen. Gott sei Dank hat man uns gestoppt. Und wir brummten mit unserem spärlichen Schulrussisch ewige Schwüre.
Fast hätte der Augustputsch unsere Reisepläne durchkreuzt. Noch einmal waren die Greise zurückgekehrt. Nach drei Tagen war alles vorbei. Als wir in Minsk am Lenindenkmal vorbeifuhren, wehte über der Stadt die weiß-rot-weiße Fahne des neuen Belarus. Es war aber noch die Sowjetunion. Ich hatte mit ihr kurz vor ihrem Ende, wie mit der DDR auch, meinen Frieden geschlossen.
Ein Jahr später kehrte ich als Austauschstudent nach Minsk zurück. Ich wollte das Land kennenlernen, die Sprache, die Leute. Was habe ich für Menschen kennengelernt! Die Eltern von Oleg haben mich wie ihren Sohn aufgenommen. Eines Abends erzählte mir Olegs Vater Grigorij, wir hatten schon viel getrunken, dass seine Schwester von deutschen Soldaten erschossen wurde. Sie war beim Gänsehüten. Später erzählte mir mein Vater, dass er 1941 in Minsk war. Es macht mich heute manchmal noch fassungslos, was ich in Belarus erlebt habe.
Wir Jüngeren machten Pläne. Dima wollte seine Keramik in Leipzig verkaufen. Oleg seine Bilder. Jurij handelte mit Autoteilen. Artur bekniete mich, in Deutschland eine Importfirma zu gründen, und ich träumte davon, in Belarus ein Holzhaus zu kaufen. Unsere Augen leuchteten, die Welt war offen. Die Zukunft auch. Ihr Name hieß Freiheit.
Im August 1999, ich war wieder einmal in Minsk, tauschte Boris Jelzin seinen Ministerpräsidenten aus. Der neue hieß Putin. Oleg zuckte mit den Schultern. „Nie gehört.“ Das belarussische Fernsehen zeigte ein schmales, blasses Gesicht. Der Mann würde nicht lange bleiben. Jelzin, alt und unberechenbar geworden, hatte seine Regierungschefs zuvor immer schneller gefeuert.
Alexander Lukaschenko hatte da sein Land schon in die Spur gebracht. 1994 demokratisch gewählt, ließ er als Erstes die weißrussische Flagge einholen. Die neue sah der sowjetischen täuschend ähnlich. Zwei Jahre später gab er sich Vollmachten, die er in einem Referendum abnicken ließ. Einige meiner Freunde, sie waren Geschäftsleute geworden, hatten das Land verlassen. Nach ihnen wurde gefahndet. Gespräche mit ihnen, wenn es sie gab, waren ernst.
Dann lächelte Putin
Am 25. September 2001 hielt Wladimir Putin im Bundestag eine Rede. Eine Chance sei damals vertan worden, heißt es jetzt. Im vorigen Jahr habe ich sie noch einmal gehört. Wladimir Putin beeindruckte mit seinem Deutsch, sprach von Freiheit und europäischer Kultur, pries die Ressourcen seines Landes, auch das Verteidigungspotenzial, und sagte: „Russland ist ein freundliches europäisches Land.“ Dann lächelte er.
Schon ein Jahr zuvor gab es einen anderen Putin zu sehen. Im August 2000 war das Atom-U-Boot „Kursk“ gesunken, alle 118 Matrosen starben. Putin reiste wenig später zur UN-Vollversammlung. In einer Talkshow in New York antwortete er auf die Frage von CNN-Talkmaster Larry King: „Sagen Sie mir, was ist mit dem Unterseeboot passiert?“ – „Es ist untergegangen.“ Dann lächelte er.
Damals war Wladimir Putin wenige Monate Präsident, inzwischen sind es mehr als 22 Jahre. Ich überblicke die Zahl der politischen Morde und Anschläge nicht mehr, die inzwischen in Russland verübt wurden, die Blutspur zieht sich bis nach Berlin. Ich kenne auch die Zahl der Toten nicht, die Lukaschenkos Geheimdienst auf dem Gewissen hat.
2007 schlenderte ich mit meiner Frau Daria, einer Russin, die ich in Berlin kennengelernt habe, durch Moskau. Vorbei an der Tretjakow-Galerie, weiter zum Roten Platz. Der Kreml strahlte kalt in seiner Pracht. Im Unterschied zu 1992 war alles an der Fassade restauriert. Im Inneren allerdings auch.
Als Wladimir Putin 2014 die Krim annektierte, schrieb ich einen wütenden Kommentar. Ich hatte die Krim 2011 mehr als zwei Wochen lang bereist, viele Krimtataren kennengelernt und war begeistert von ihrem Elan, ihre alte Heimat wiederaufzubauen. Seit der Annexion verfolgen Putins Geheimdienste genau diese Menschen.
Quelle : TAZ-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Meine Fotokarriere begann mit diesem Bild, das kurz nachdem sie aus dem Auto gesprungen waren, um Gratulanten in Wash.D.C zu begrüßen. 1. Juni. 1990