Krieg der Influencer
Erstellt von Redaktion am Samstag 26. März 2022
Die Invasion der Ukraine und die sozialen Medien
Eine Kolumne von Sascha Lobo
Millionen Menschen sehen Putins Krieg durch TikTok-Videos und Tweets von der Front. In den sozialen Medien gab es noch nie so viele »Warfluencer«. Das ist nicht verwerflich, sondern angesichts des Horrors schlicht nötig.
Man könnte sie »Warfluencer« oder »Kriegfluencer« nennen. Das sind zugegeben keine überdurchschnittlich eleganten Worte, aber sie drücken aus, worum es geht. Soziale Medien sind ein eigenes Schlachtfeld geworden. Bei den Kriegen und Konflikten in Syrien, Kurdistan, der Ukraine seit 2014, Armenien, Mali, Afghanistan und vielen anderen Orten der Welt war das in den letzten zehn, fünfzehn Jahren auch schon so. Aber beim russischen Überfall auf die Ukraine ist der Krieg in und mit sozialen Medien auf eine völlig neue Größenordnung und Qualitätsstufe katapultiert worden. Am deutlichsten erkennbar ist das vielleicht am Warfluencer oder Kriegfluencer, einem neuen Typus des Social Media-Nutzers.
Die Veranstaltung des Weißen Hauses am 10. März 2022 ist oberflächlich betrachtet keine besondere Angelegenheit. 30 Personen lauschen den Ausführungen der Sprecherin des US-Präsidenten, Jen Psaki, sowie ihrer Gäste vom Nationalen Sicherheitsrat von Joe Biden: ein Strategie-Briefing, also eine Unterrichtung über die Lage in der Ukraine und die Ziele der USA. Aber die Gäste sind keine Journalisten, sondern TikTok-Stars mit vielen Millionen Followern.
Im Irakkrieg von 2003 wurde der Begriff »embedded journalists« geprägt, weil der Informationswunsch der Massenmedien auf traditionelle Weise kaum mehr zu befriedigen war. Das Publikum wollte noch näher dabei sein, also ließ die US-Armee Reporter*innen in Panzern mit auf ihre Einsätze fahren. Es gab viel Kritik, dass sich Journalist*innen als Propagandahilfe missbrauchen ließen. Trotzdem war deren Berichterstattung manchmal sehr wertvoll und hätte anders kaum entstehen können.
In gewisser Weise sind Warfluencer die zeitgemäße Weiterentwicklung der »embedded journalists«. Soziale Medien wie TikTok und Instagram sind die Plattformen, wo viele Millionen junge Menschen sich zugleich unterhalten und informieren, also findet der Krieg auch dort statt. Die chinesische Kurzvideo-Plattform TikTok gehörte in den letzten Jahren zu den am häufigsten heruntergeladenen Apps weltweit und hat inzwischen über 1,5 Milliarden Nutzer*innen.
Die mediale Relevanz speziell von TikTok für Menschen unter 25 Jahren ist kaum zu überschätzen, daher ist der Informationsansatz des Weißen Hauses folgerichtig. Aber soziale Medien haben im Krieg weitaus mehr Funktionen, die sich zudem ständig weiterentwickeln. Warfluencer entstehen automatisch, wo die Prinzipien sozialer Medien wie Personenfixierung, der Wunsch des Publikums nach Vorbildern und die Vermischung von Information und Inszenierung auf den Krieg prallen.
Die Allgegenwart des Aktivismus in sozialen Medien
Als gegen Ende der Nuller-Jahre soziale Medien zum Massenphänomen wurden, entstand fast gleichzeitig eine heute nur noch selten erwähnte Spielart des Aktivismus: Clicktivism (auf deutsch traditionell noch sperriger, nämlich Klicktivismus), ein oft abschätzig verwendetes Kofferwort aus Click und Aktivismus. Es herrschte die allgemeine Überzeugung, dass »Klicktivisten« mal hier was liken, dort was sharen, da drüben kommentieren und als stärkste Beteiligungsform vielleicht ein paar Euro spenden. Faktisch aber hat der oft verspottete Klicktivismus mithilfe der sozialen Medien die Gesellschaft erobert.
Inzwischen hat sich eine Allgegenwart des Aktivismus in sozialen Medien ergeben, alle setzen sich für alles Mögliche ein. Oder dagegen. Die aktivistische Positionsbestimmung gehört zum Standard der Selbstdarstellung, etwa mit Fahnen und Hashtags im Namen oder in der Profilbeschreibung. Es ist praktisch unmöglich, auf Twitter, Instagram oder TikTok nicht in Kontakt mit der ein oder anderen Form des Aktivismus zu kommen. Sogar die verbreiteten, sogenannten Challenges, eine Art Massen-Mitmach-Wettbewerb in sozialen Medien, kann man als Trockenschwimmen des Aktivismus betrachten, um die Verbreitungsinstrumente für den Ernstfall geschmeidig zu halten.
Social-Media-Aktivismus hat sich in der Folge zu einer Mischung aus Modeerscheinung, Selbstverständlichkeit und Erwartungsdruck entwickelt. Große Accounts werden regelmäßig von vielen kleinen Accounts aufgefordert, sich gefälligst zu positionieren, Hashtag Ausrufezeichen, also ihre Reichweite in den Dienst einer aktivistischen Sache zu stellen. Anfeindungen bei Nichtbeachtung inklusive.
Dieser Druck zum Aktivismus lässt sich an David Beckham feststellen. Ganz ohne Wertung kann man sagen, dass der ehemalige Fußballer eigentlich nicht zu den ersten Personen gehören würde, an die man zum Stichwort »Krieg in der Ukraine« denken muss. Seine Kompetenzen scheinen für oberflächlich Betrachtende eher im Fußballspielen und eleganten Tragen von Hosen und Frisuren zu liegen.
David Beckham und die Chefin der Geburtenklinik
Aber Beckham ist schon seit 2015 Unicef-»Ambassador«, eine vornehme Bezeichnung für Aktivist. In dieser Funktion hat er seinen Instagram-Account mit über 70 Millionen Followern für einen Tag einer ukrainischen Ärztin und Chefin der Geburtsklinik von Charkiw überlassen, die aus ihrem Kriegsalltag postete. Leichte Dissonanzen mögen sich daraus ergeben haben, dass Beckham auf Instagram auch Werbung für Maserati macht und deshalb unmittelbar nach der Klinik im Kriegsgebiet die Vorstellung des neuen Maserati Grecale folgt. Aber bei genauer Betrachtung ist das so normal wie der Werbespot vor der Tagesschau, in der ebenso Erschütterndes zu sehen sein kann.
Beckham als Warfluencer zeigt die neue Dimension der sozialen Medien im Social Media-Krieg neben dem dinglichen Krieg. Dadurch bekamen Millionen Menschen Einblick in die katastrophale Situation vor Ort in der ukrainischen Klinik, die davon sonst vielleicht wenig erfahren hätten. Die Leute in der Ukraine selbst, die am schlimmsten betroffen sind vom russischen Überfall, können in Beckhams Aktion eine Stärkung der Aufmerksamkeit für ihre Sache erkennen.
Aufmerksamkeit ist für Konflikte auf mehrere Arten essenziell. Vor allem, weil die dadurch geführten Debatten in liberalen Demokratien tatsächlich eine Wirkung entfalten. Ohne die bundesweite, lautstarke Empörung über die anfängliche Zurückhaltung der Bundesregierung in Sachen Waffenlieferungen an die Ukraine wären die zunächst zugesagten 5000 Helme vermutlich noch immer die einzige Hilfe Deutschlands. Beckhams Insta-Übergabe ist der prominente Truppenbesuch des 21. Jahrhunderts.
Quelle : Spiegel-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Zerstörungen in der Oblast Charkiw nach russischem Beschuss während der russischen Invasion der Ukraine im Jahr 2022.
Staatlicher Notdienst der Ukraine – https://www.facebook.com/photo/?fbid=325239292977300&set=pcb.325237332977496 (der ganze Beitrag)
- CC BY 4,0
- Datei:Oblast Charkiw nach dem Beschuss (4).jpg
- Erstellt: 2. März 2022
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Unten — Sascha Lobo; 10 Jahre Wikipedia; Party am 15.01.2011 in Berlin.…
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- File:Wp10 20110115 IMG 9974.jpg
- Erstellt: 15. Januar 2011
Erstellt am Samstag 26. März 2022 um 13:04 und abgelegt unter Asien, Europa, Kriegspolitik, Positionen. Kommentare zu diesen Eintrag im RSS 2.0 Feed. Sie können zum Ende springen und ein Kommentar hinterlassen. Pingen ist im Augenblick nicht erlaubt.