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Kopf oder Herz?

Erstellt von Redaktion am Mittwoch 1. November 2017

Ein Wort zum Mittwoch
Erinnerung versus Erinnerungskultur

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Vergleichen – kann man nicht ! ? Mir hat „Unterer“ persönlich  mehr zu sagen !! IE.

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Einige Gedanken von  Stefan Weinert

Landauf und landab, auf Plätzen und an Gebäuden finden wir in unseren Städten und Dörfern  Denkmäler und Schilder, die uns daran erinnern sollen, wer wann und wo eine Schlacht gewonnen, eine große Tat vollbracht, etwas Großartiges erfunden hat, oder wer wann und wo etwas erleiden musste. Ja, vor manchen dieser Denkmäler und Tafeln und Schildern versammeln wir uns einmal im Jahr, um zu zeigen, dass wir nicht vergessen haben. Das ist zwar „Erinnerung“, aber noch lange keine „Kultur der Erinnerung“, also Erinnerungskultur.

Bei der Erinnerungskultur ist das „Wie“ ganz entscheidend. Es reichen das „wer“ – „wann“ – „wo“ – oder auch das „was“ bei Weitem nicht aus. Gerade in Bezug auf die Opfer von Tyrannei, Barbarei und Rassenwahn – so, wie sie es von 1933 – 45 in Deutschland und Europa millionenfach gab  – ist die Frage nach dem „Wie des Leidens und Sterbens“ der Opfer von entscheidender Rolle, um von der reinen intellektuellen Wahrnehmung und Erinnerung zu einer wirklichen emotionalen Wahrnehmung und damit zur Erinnerungskultur zu kommen.

Während der NS-Herrschaft gab es unter dem Gros der Bevölkerung, also den indirekten Tätern, und den Ausführenden der Gräueltaten in der gesamten Befehlkette, einen völligen Mangel an Sensibilität für die Rechtsgefühle und die Empfindungen derer, die verfolgt, gequält und getötet wurden. Anders lassen sich die dämonischen Handlungen, die Menschen an Menschen vollzogen haben, nicht erklären. Vor einem Erinnerungsschild, oder Denkmal zu stehen und an die nicht kaschierbaren Verbrechen ohne sichtbare Emotionen zu denken, reicht nicht.

Statt der Glockenschläge für jedes der Naziopfer, sollte sich der Erinnernde vorstellen, was es für eine Mutter in Auschwitz bedeutet, wenn ihr das Kind entrissen und dann direkt vor ihren Augen in die Gaskammer geschickt wird. Oder der Wahnsinn, den jene Mutter in Ravensbrück befällt, als ihr ein Hauptmann das Baby entreißt, es an den Füßen fasst, es herumschleuderte und – den Kopf voraus – gegen eine Betonwand schleuderte. Und jene Zwillinge, die ein Dr. Mengele für seine Versuche bei vollem Bewusstsein zusammennähte, um aus ihnen „siamesische“ Zwillinge zu machen.

Die Empfindungslosigkeit (Anästhesie) der „Arier“ in den Jahren 1933 – 45 gegenüber den Juden, Sinti und Roma, den Menschen mit Behinderung, dem unwerten Leben, den Homosexuellen und Kommunisten hat sich nach dem Krieg bei den Deutschen insofern fortgesetzt, als dass es nie echte Trauer gegeben hat: Keine Trauer und Reue über die eigenen Taten, keine Trauer und Träne über das unvorstellbare Leid, das man jenen zugefügt hatte, die nicht der arischen und politischen Norm entsprachen. Genau diese Gefühllosigkeit, in der zwar intellektuell „getrauert und erinnert“ wurde, habe ich bei der „Einweihung“ des Erinnerungsschildes an der ehemaligen Ravensburger NSDAP-Zentrale erlebt. Das hatte mit Kultur absolut nichts zu tun. Das war verordnete Erinnerung für den  Kopf. Entsprechend fiel auch das Erinnerungsschild aus – lieblos, kalt und klein. Gefühlte Erinnerung kann nur die Kunst hervorbringen, wie etwa die „Grauen Busse“ oder eine aus Bronze gegossene Erinnerungsschrift an der Häuserwand.

Aber es war doch keine Zeit zum Trauern, denn Deutschland musste schnell wieder aufgebaut werden! Als wenn sich beides widersprechen würde. Aber es passte genau ins Denken. Hitler war tot, und damit auch die Vergangenheit. Was war, das war. Es wurde verdrängt und die Realität verleugnet und es wurde geleugnet. Und wenn schon Erinnerungen kamen, dem Individuum, oder Erinnerungen verordnet wurden, der Gesellschaft, dann wurden die Gefühle von ihnen als Schutz des Selbstgefühls abgespalten. Man hört von den Zwangssterilisationen – teilweise ohne Narkose – aber macht sich von den Schmerzen dieses Eingriffs und dem Raub und die Erniedrigung, selbst noch Menschen zeugen und in die Welt setzen zu können, keine gefühlsmäßige Vorstellung.

Als in den 1960er Jahren eine deutsche Touristengruppe mit einem Bus durch Prag fuhr und der Busfahrer darauf hinwies, an welchen Stellen und Plätzen der Stadt die deutschen Besatzer einst ihre Gräueltaten an den Tschechen gegangen hatten, nötigten die Touristen den Busfahrer anzuhalten und verließen empört den Bus. Das wollten sie sich nicht länger anhören, damit wollten sie nicht konfrontiert werden. Genau dieses Verhalten steht dem Wachsen einer Erinnerungskultur kontraindiziert gegenüber. Ich stelle mir vor, bei einer Gedenkveranstaltung werden statt der 691 Glockenschläge (wie es jährlich in Ravensburg geschieht) nur zwölf Gräueltaten der Nazis an lebens- und zeugungsunwerten Menschen im Detail wiedergegeben und es wird dabei darauf hingewiesen, dass tausende von Bürgern taten- und widerstandslos dabei zugesehen haben.

Die Tatsache, dass seit nun über 72 Jahren immer wieder nur eine Minderheit und Einzelne dafür gekämpft haben und kämpfen mussten, damit  wir Deutsche uns erinnern zeigt, dass eine wirkliche Erinnerungskultur eigentlich nie erwünscht, weil zu schmerzhaft, und weil sie zu Konsequenzen geführt hätte, die niemand ernstlich wollte. Und bis heute gibt es sie nicht. Und dieses Verhalten stützt die These, dass sich Schreckliches in der Geschichte eines Landes wiederholen kann. Die deutsche Vergangenheit wurde nie durchgearbeitet, wurde nie austherapiert, weswegen auch keine tiefgreifende Heilung vom „deutschen Wesen“ geschehen konnte. Die Auswirkungen sind bis heute und gerade heute deutlich zu spüren. Zu meinen, die aktuellen politischen Ereignisse mit dem Erstarken der Rechten lägen an einer „verfehlten Flüchtlingspolitik“ ist wirklich zu kurz gedacht.

(c) Stefan Weinert, 2017 Ravensburg

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Grafikquellen  :

Portrait of Martin Luther   –  This work is in the public domain in its country of origin and other countries and areas where the copyright term is the author’s life plus 100 years or less.

Artist
Title Portrait of Martin Luther
Date
Medium oil on panel (copper beech)
Exhibit at the

Source/Photographer Self-photographed

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Description Rev. Martin Luther King, head-and-shoulders portrait, seated, facing front, hands extended upward, during a press conference / World Telegram & Sun photo by Dick DeMarsico.
Date
Source
US-LibraryOfCongress-BookLogo.svg This image is available from the United States Library of Congress’s Prints and Photographs division under the digital ID cph.3c22996.
This tag does not indicate the copyright status of the attached work. A normal copyright tag is still required. See Commons:Licensing for more information.


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New York World-Telegram and the Sun Newspaper Photograph Collection.

Author New York World-Telegram and the Sun staff photographer: DeMarsico, Dick, photographer.
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This photograph is a work for hire created prior to 1968 by a staff photographer at New York World-Telegram & Sun. It is part of a collection donated to the Library of Congress and per the instrument of gift it is in the public domain.

Ein Kommentar zu “Kopf oder Herz?”

  1. Henry P. - Prenzlau sagt:

    Danke für diese Aufklärung. Möchte noch darauf hinweisen, dass wir Nachgeborenen uns nicht nur in das erlebte Grauen der Opfer hineinempfinden und – erinnern (= Emphatie), sondern uns auch der Gräuel der Täter an ihren Opfern – über deren Tod hinaus – nicht nur bewusst werden (Wissen = Kopf), sondern uns auch unkaschiert vor das innere Auge halten zu müssen – und es auszuhalten bis zum bitteren Ende:

    Auschwitz-Buchenwald
    „Zuerst kamen die Frauen mit den Kindern hinein, hernach die Männer. Die Tür wurde schnell zugeschraubt und das Gas in einen Luftschacht geworfen. Durch das Beobachtungsfenster konnte man sehen, dass die dem Einwurfschacht am nächsten Stehenden sofort tot umfielen. Die anderen fingen an zu taumeln, zu schreien und nach Luft zu ringen. Das Schreien ging bald in ein Röcheln über, und in wenigen Minuten lagen alle. Eine halbe Stunde nach dem Einwurf des Gases wurde die Tür geöffnet und die Entlüftungsanlage eingeschaltet. Den Leichen wurden nun durch das Sonderkommando die Goldzähne entfernt und den Frauen die Haare abgeschnitten. Hiernach wurden sie durch den Aufzug nach oben gebracht vor die inzwischen angeheizten Öfen.“ – Erinnerungen von Lagerkommandant Rudolf Höß, Auschwitz. —

    Lampenschirme aus Menschenhaut: „Im Herbst 1940 war SS-Hauptsturmführer Müller in der Pathologischen Abteilung tätig. Müller gab die Anregung, Tätowierungen von Körpern verstorbener oder getöteter Häftlinge abzulösen, die Haut zu gerben und Lampenschirme aus dieser Haut herzustellen. Er berief sich bei Übermittlung dieses Auftrages an mich auf einen Befehl aus Berlin. Wiederholt wurden Hunderte von Stücken tätowierter Haut auf die verschiedenste Art gegerbt und an den Chef des Amtes D III des Wirtschafts- und Verwaltungsapparates der SS in Berlin, den Standartenführer Lolling, übersandt. Lolling war bis Ende des Krieges leitender Arzt aller Konzentrationslager Deutschlands. Aus einem Fernschreiben Lollings an den SS-Standort-Arzt in Weimar-Buchenwald vom 17. 4. 1944 geht hervor, dass dort zu diesem Zeitpunkt 142 Stück Tätowierungen lagen.“ Die oben zitierte Aussage des österreichischen Häftlings Gustav Wegerer in Buchenwald vom 23. April 1945 wird von anderer Seite mehrfach bestätigt. So zum Beispiel durch den französischen Mediziner Alfred Balachowsky, ebenfalls Buchenwald-Häftling, der am 29. Januar 1946 im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess als Zeuge auftrat: M. Dubost: „Gab es viele tätowierte Menschenhäute in Block 2?“ Balachowsky: „Es gab stets tätowierte Menschenhäute in Block 2. Ich weiß nicht, ob es viele waren, weil ständig Häute hereinkamen und wieder weitergegeben wurden; es gab nicht nur tätowierte, sondern auch einfach gegerbte Häute, die nicht tätowiert waren.“

    M. Dubost: „Man hat also Menschen gehäutet?“ Balachowsky: „Man hat die Haut abgezogen und dann gegerbt. . . . Ich sah SS-Männer aus Block 2, dem Pathologischen Block, mit gegerbten Häuten unter dem Arm herauskommen. Ich weiß von Kameraden, die in Block 2 arbeiteten, dass dort Bestellungen auf Häute eingegangen sind, und dass diese gegerbten Häute einigen Wachposten und Besuchern geschenkt wurden, die sie zum Einbinden von Büchern benutzten. . . als die Amerikaner das Lager befreiten, haben sie am 11. April 1945 im Block 2 noch tätowierte und gegerbte Häute gefunden. Die Amerikaner fanden auch einen Lampenschirm aus gegerbter tätowierter Menschenhaut, der aus der Wohnung des ehemaligen Kommandanten des Konzentrationslagers Buchenwald, Karl Koch, stammen soll.“ – Hellmuth Auerbach

    Quellen: Internationales Buchenwald-Komitee (Hrsg.), Buchenwald. Mahnung und Verpflichtung. Dokumente und Berichte. Frankfurt a. M. 1960 (Lolling-FS, Abb. 37, Zitat Wegerer, S.158); Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg 1947, Band VI (Zitat S. 347f.); Arthur L. Smith jr., Die „Hexe von Buchenwald . Der Fall Ilse Koch. Köln 1983.

    Henry Paul, Prenzlau

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