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RENTENANGST

Kopf ab, Rübe runter

Erstellt von Redaktion am Donnerstag 18. Februar 2016

Hate Speech der Masse

von Tilman Baumgärtel

Wie wird aus Wohlstandsbürgern ein Mob von Internet-Trollen? Der französische Soziologe Gustave Le Bon hat das schon vor 120 Jahren analysiert.

Nicht erst „seit Köln“ herrscht in den sozialen Medien in Deutschland ein bedenklicher Ton. Bei Facebook oder Twitter, in den Kommentarspalten der Websites von tagesschau.de bis Zeit Online ist es nichts Ungewöhnliches mehr, dass Menschen, weil sie anderer Meinung sind, beleidigt, der Lüge bezichtigt oder bedroht werden. Und je brausender der Furor, desto größer die Schwierigkeiten mit der deutschen Rechtschreibung.

Lange habe ich mir deshalb den deutschen Internet-Troll so vorgestellt, wie er einst in einer denkwürdigen Reportage der FAS dargestellt wurde: als invaliden Frührentner, der in Jogging-Hosen in einer nikotingeschwängerten Einzimmerwohnung auf der Schlafcouch am Laptop sitzt. Und sich die Zeit damit vertreibt, im Internet über Lügenpresse, Gutmenschen und Wirtschaftsflüchtlinge abzukotzen. Aber wenn man sich die Facebook-Profile der übelsten Online-Motzer ansieht, stellt man mit Entsetzen fest: Die meisten von ihnen scheinen stinknormale Leute zu sein, die neben einem im Bus sitzen oder im Treppenhaus grüßend an einem vorbeigehen könnten.

Wenn sie sich online nicht gerade über „Sozialschmarotzer“, „Rapefugees“ oder „Verschwulung“ ereifern, posten sie bei Facebook Bilder vom neuen Rennrad oder vom Urlaub in Gran Canaria. Wie kann es sein, dass BRD-Normalos sich im Internet zu einer Art Online-Lynchmob zusammenschließen? Und hier ein unverschämtes Benehmen an den Tag legt, das sich wohl keiner der Beteiligten alleine oder in der wirklichen Welt erlauben würde?

Eine ähnliche Frage hat vor 120 Jahren der französische Soziologe Gustave Le Bon in seinem Buch „Die Psychologie der Massen“ zu beantworten versucht: Wie kommt es, dass Einzelne in der Masse plötzlich Dinge tun (Lynchen, Plündern, „Kopf ab! Rübe runter“-Schreien), die ihnen allein nie in den Sinn kämen?

Die Masse als Mob

Die Masse war zu dieser Zeit ein neues soziales Phänomen, das untrennbar mit der Moderne und der industriellen Revolution verknüpft war. Menschen, die nach dem Ende des Feudalismus auf der Suche nach Fabrikarbeit ihre dörfliche Heimat und damit auch deren verbindlichen Normen und Regeln hinter sich gelassen hatten. In den sich entwickelnden Großstädten fanden sie eine moralische Tabula rasa vor, in der es keine gewachsene Gemeinschaft gab, die auf die Einhaltung von gesellschaftlichen Grundregeln achtete.

Hier konnte sich eine neue Massenkultur entwickeln, die nicht nur Le Bon zum Nachdenken brachte. Bücher wie „Der Aufstand der Massen“ (1929) von José Ortega y Gasset und „Masse und Macht“ (1960) von Literaturpreisträger Elias Canetti hielten die Massenpsychologie bis in die Nachkriegszeit in der Diskussion und lieferten die Grundlage für eine fortgesetzte elitäre Massenverachtung des Bürgertums auch in Deutschland.

Die Masse, die Le Bon entdeckt hatte, war im Grunde ein Mob, gesteuert vom Unterbewussten, das vernünftiges Handel unmöglich machte, triebhaft, leichtgläubig, grausam, ungeduldig. Wer Teil einer Masse wird, entwickelt sich gleichsam eine Evolutionsstufe zurück. In der Masse gibt man seinen gesunden Menschenverstand und die Fähigkeit zur Kritik auf, die Persönlichkeit wird durch „Rückenmarkdenken“ ersetzt.

Die Masse, die Le Bon 1895 beschreibt und die ich „Masse 1.0“ nennen möchte, hat bemerkenswerte Gemeinsamkeiten mit den Online-Krakelern der Gegenwart: Die „Massen kennen weder Zweifel noch Ungewissheit und ergehen sich stets in Übertreibungen. Ihre Gefühle sind stets überschwänglich“, schreibt Le Bon. Auch die Internet-Wutbürger sind schnell und ohne lästiges Nachdenken davon zu überzeugen, dass „südländisch aussehende“ Täter sich an der 13-jährigen Lisa aus Marzahn vergangen haben. Davon, dass die Vergewaltiger aus Gründen der Political Correctness von der Polizei gedeckt werden. Oder dass Angela Merkel persönlich die politische Linie der deutschen „Systemmedien“ von der „Tagesschau“ bis zur Bild vorgibt.

 Die Stänkerindustrie

Quelle: TAZ >>>>> weiterlesen

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Fotoquelle: Wikipedia – Author carstingaxion / Carsten Bach –/– CC BY 2.0
Freiheit statt Angst 2007 in Berlin

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