Theodor Wiesengrund Adorno sah sich 1959 gezwungen, ein ganzes Buch über die Kehrseite sozialer Medien zu schreiben, dessen Essenz dieses Zitat ist: »Das Halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind«. Es taugt heute als unfreiwilliges Motto der Impfgegnerschaft, die ihre halbverstandenen Behauptungen lautstark im Netz verbreitet.
Vor allem ihretwegen laufen wir in ein Coronaproblem hinein, dessen genaue Größenordnung wir zwar noch nicht erfassen können, denn die Impfbereitschaft ist inzwischen auf erfreuliche 75 Prozent angestiegen. Aber es wird ziemlich sicher zu groß, um es zu ignorieren. Und es führt direkt und indirekt zu massiven gesellschaftlichen Verwerfungen: Zum Problem werden auch hierzulande Leute, die sich nicht oder nicht vollständig impfen lassen wollen.
Wichtig ist hier das Wort »wollen«, denn es gibt Menschen, die sich nicht impfen lassen können – die sind selbstredend nicht Teil des Problems, sondern gehören im Gegenteil zu den Hauptleidtragenden. Denn Herdenimmunität basiert bekannterweise darauf, dass sich je nach Krankheit, Impfstoff und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wie Alltagshygiene und Bevölkerungsdichte zwischen 60 und 80 Prozent der Menschen impfen lassen. Manche Fachleute sprechen sogar von Werten von 90 Prozent. Je mehr Personen sich nicht impfen lassen, obwohl sie es könnten, desto schwieriger wird, diejenigen schützen, für die eine Impfung nicht in Frage kommt, etwa einige Menschen mit Behinderung, Immunschwächen oder verschiedenen schweren Krankheiten. Oder Kinder, solange noch kein Impfstoff für unter Zwölfjährige zugelassen ist.
Nicht jeder Vorsichtige ist ein Impfgegner
In den vergangenen Jahren hat sich eine überraschend breite Impfgegnerschaft herausgebildet, die mit der Coronapandemie enorm an Zulauf gewonnen hat und noch gewinnt. Wichtig ist hierbei die Definition, denn Kritik – natürlich auch harsche und emotionale – an Impfungen, an Pharmaunternehmen, an Impfpolitik, an der Berichterstattung zum Impfkomplex oder auch der Wissenschaft sind legitim und sinnvoll. Auch die Coronamaßnahmen kann man heftig ablehnen, ohne gleich in diese Kategorie zu fallen.
Denn unter »Impfgegnern« verstehe ich hier ausschließlich Leute, die nicht Kritik üben, sondern Impfungen auf Basis von Halbwissen ablehnen. Menschen, die einfach aufgrund etwa der Neuheit der Impfungen vorsichtig sein möchten, zähle ich in dieser Analyse ausdrücklich nicht zu den Impfgegnern.
Allerdings gibt es eine Reihe von Impfgegnern, die sich selbst als Kritiker, Skeptiker oder mit ähnlichen Beschönigungsbegriffen bezeichnen. Diese Form von Verschleierung ist typisch: Ein in der Szene prominenter Impfgegner
behauptet gar, er sei
für Impfungen – es gäbe bloß leider, leider derzeit keine einzige Impfung, die die von ihm akzeptierten medizinischen Standards erfüllen würde.
Das spezifische Impfhalbwissen wird erzeugt durch pseudowissenschaftliche und halbverstandene Studien, durch Rosinenpickerei und absichtliche Fehlinterpretationen, durch Verschwörungstheorien und Aufbauschen ernsthafter Kritik. Einen Beitrag leisten aber auch eine teils mangelhafte Kommunikation und ungünstige Aktivitäten des gesamten Gesundheitssektors zwischen Politik, Verwaltung, Verbänden, Institutionen – sowie manchmal auch das schwierige Verhalten von Einzelpersonen aus dem Gesundheitssystem.
Eine aggressive, oft menschenfeindliche Ideologie
Das würde auch mit diversen Studien zur Impfbereitschaft (wie etwa der des SPIEGEL von November 2020) korrelieren. Etwas vereinfacht lässt sich sagen: Was Rechtspopulismus für Männer ist, ist Impfgegnerschaft für Frauen – eine aggressive, oft menschenfeindliche Ideologie, die das eigene, bauchgefühlte Halbwissen über das Wohlergehen anderer Menschen stellt. Und die anknüpfungsfähig ist, sowohl für andere Menschenfeindlichkeiten wie Antisemitismus wie auch generell für Verschwörungstheorien aller Art, und bevorzugt mit der Opfererzählung arbeitet: Wir machen das, weil wir und unsere Kinder die Opfer sind.
Impfgegnerschaft erscheint als Einstiegsdroge in eine lebensbedrohliche Welt, in der sich mächtige, prinzipiell bösartige und meist geldgierige Zirkel gegen die Gesundheit der Bevölkerung verschworen haben. »Droge« ist dabei leider eine ziemlich treffende Metapher, weil es wie bei einer Sucht sehr schwer und für manche unmöglich ist, das irrationale, halbgebildete Anti-Impf-Weltbild abzulegen.
Befeuert wird die Impfgegnerschaft vor allem durch die Kommunikation im Netz. Aber warum werden Menschen mitten in einer Jahrhundertpandemie Impfgegner?
Quelle : Spiegel-online >>>>> weiterlesen
*********************************************************
Grafikquellen :
Oben — COVID-19-Impfzentrum in Halle 4 der Kölnmesse, Köln