Knapp überm Boulevard
Erstellt von DL-Redaktion am Dienstag 28. März 2023
Demokratie als Handelsware
Welch freier Mensch würde sich von dieser Ware einparken lassen ?
Eine Kolumne von Isolde Charim
In einem Essay in der Zeit stellte Albrecht Koschorke kürzlich fest: Die Tage des Westens sind gezählt. Auch wenn Russland seinen brutalen Angriffskrieg in der Ukraine aufgrund der Hilfe des Westens nicht gewinnt. Der politische Liberalismus befindet sich im Untergang.
Jener Liberalismus, der versprach, Fortschritt, Demokratie und Marktwirtschaft zu verbinden. Die letzte Version dieses Glaubens sei die Formel „Wandel durch Handel“ gewesen. Jene Vorstellung habe Russland ja unmissverständlich widerlegt.
Ganz woanders – in Israel – zeigt sich nun, dass dies nicht die letzte Version war. Die Lage ist kompliziert. Das erste, gänzlich rechtsgerichtete Kabinett in der Geschichte des Landes unter Führung des unter Korruptionsverdachts stehenden Benjamin Netanjahu spielt das gesamte Repertoire des politischen Anti-Liberalismus durch: Ein groß angelegter Angriff auf Rechtsstaatlichkeit, Gewaltentrennung und Bürgerrechte. Im Zentrum steht ein Umbau des Rechtswesen, der darauf zielt, juristische Unabhängigkeit einzuschränken. Das betrifft zum einen die Bestellung der Höchstrichter, die nunmehr unter Regierungskontrolle stehen soll. Zum anderen ermöglicht es dem Parlament, Entscheidungen des Obersten Gerichts zu widerrufen – also de facto Gesetze zu beschließen, die als verfassungswidrig abgelehnt wurden. Damit wird das Oberste Gericht als Kontrollinstanz und wichtigster Gegenspieler der Regierung ausgehebelt.
Dagegen erhebt sich seit Wochen massenhafter und eindrucksvoller Protest. Die Zivilgesellschaft hat auf der Straße den Druck auf die Regierung erhöht. Neben anhaltenden Protesten der israelischen Bevölkerung tritt aber noch etwas anderes zutage: leiser, aber nicht weniger wirkmächtig. Es ist das, was die israelische Zeitung Ha’aretz die „Achillesferse“ der amtierenden Regierung genannt hat: die Wirtschaft. Zahlreiche namhafte Ökonomen warnen in einem offenen Brief vor den Folgen dieser autoritären Politik für die israelische Wirtschaft. Der Staatsumbau schade dem Ansehen des Landes und schrecke Investoren ab. Es gebe internationale Befürchtungen. Eine Herabstufung des Kreditrankings drohe. Auch die Währung sei betroffen.
Vor allem die wichtige Hightechbranche spürt die Folgen des Imageschadens. Geldgeber drohen sich abzuwenden. Erste Unternehmen haben ihre Investitionen abgezogen – unter explizitem Hinweis auf den Justizumbau. Andere folgen. Die USA warnen vor einer Politik, die nicht im Einklang mit ihren Interessen und Werten stehe. Das ist die entscheidende Verquickung: die Durchdringung von Interessen und Werten. Genau dies wird an den Stellungnahmen seitens der Ökonomie deutlich.
Die Wirtschaft wird hier zu einem wirkmächtigen politischen Akteur. Nicht in dem alten Sinne, dass sie im Stillen sogenannte Lobbyarbeit betreibt – also Druck auf die Politik ausübt, um ihre Interessen durchzusetzen. Nein, die Ökonomie wird in Israel zum politischen Akteur, indem sie gewissermaßen als „Hüterin“ der Demokratie auftritt.
Das gegenwärtige Konfusionsspiel der politischen Kategorien – wie etwa jenes zwischen links und rechts – wird hier auf die Spitze getrieben: Wirtschaft setzt sich für demokratische „Werte“ ein, um ihre ökonomischen Interessen zu schützen. Ist das nun gut oder schlecht? Fortschritt oder nicht?
Quelle : TAZ-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Paris – Boulevard Saint-Denis mit der Porte Saint-Denis (September 2014)