Erstellt von Redaktion am Dienstag 21. Januar 2020
Die Impfgegner des Internets
Ein Ausschnitt des Internet
Wolfgang Schäuble will, dass Menschen soziale Netzwerke nur noch unter ihrem echten Namen nutzen. Dahinter steckt vor allem eins: Digitalesoterik. Praktisch wäre so eine Vorgabe für viele sogar gefährlich.
Das nächste Sommergewitter kommt bestimmt, deshalb kann man gar nicht früh genug warnen: „Eichen sollst du weichen, Buchen sollst du suchen.“ So erzählt man es sich seit langer Zeit, und deshalb stimmt es auch. Die Buche wirkt im Fall eines Gewitters als Lebensrettung. Das ist ja klar. Oder?
Gerade brandet eine alte Debatte wieder auf, die schon oft geführt wurde, die Diskussion über eine Klarnamenpflicht im Internet. Wie viele netzpolitische Diskussionen erscheint sie manchem auf den ersten Blick eher langweilig und zu technisch. Und trotzdem, das haben solche Themen oft an sich, wird hier nichts weniger als die Gesellschaft der Zukunft verhandelt.
Wenn wir Internetleute beisammensitzen, machen wir uns oft lustig über Menschen wie Wolfgang Schäuble, die regelmäßig eine Klarnamenpflicht fürs Netz oder speziell für soziale Netzwerke fordern. Wir lachen über ihre Ahnungslosigkeit, Hilflosigkeit und die daraus entstehende strukturelle Digitalfeindlichkeit. Es ist ein bitteres Lachen, zu oft haben wir erlebt, dass Gesetze erlassen werden gegen jede Evidenz. Dass Digitalpolitik betrieben wird nur anhand der Bauchgefühle analog geprägter Personen, jenseits jeden wissenschaftlichen Nachweises.
Eine regelmäßig wiederkehrende Spezialität der verschiedenen Bundesregierungen Merkel: Digitalesoterik, bei der gesetzlich festgeschrieben wurde, dass im Gewitterfall die Bevölkerung gefälligst unter einer Buche Schutz zu suchen habe.
Es geht um ein Bauchgefühl
Inzwischen kann man sagen, woher die merkwürdige Blitz-Bauernregel mit Eichen und Buchen stammt. Aufgrund der unterschiedlichen Wassereinlagerungen und der Rindenbeschaffenheit in den verschiedenen Baumarten sind Blitzeinschläge in Eichen viel deutlicher sichtbar. In eine Buche kann ein Blitz einschlagen, ohne dass es später auf den ersten Blick erkennbar wäre. Faktisch schlagen Blitze statistisch unabhängig von der Baumart ein, aber nach rein visuellen Kriterien hatten die Altvorderen recht. Es sieht für aufmerksame Beobachter so aus, als würden Blitze in Eichen häufiger einschlagen als in Buchen. Leider sieht es eben nur so aus. Mit der Klarnamendebatte verhält es sich ebenso.
Das Bauchgefühl der Menschen, die nicht im Netz geprägt worden sind, lässt sie oft spüren, dass die Anonymität des Netzes das eigentliche Problem sei. Man muss das nicht verspotten. Es ist eine vermeintlich logische Schlussfolgerung, aber sie ist falsch. Sie geht unter anderem davon aus, dass alle Menschen irgendwie einen redlichen Kern in sich trügen, und deshalb höchstens unter falschem Namen Monstrositäten von sich gäben. Wie sehr ich mir wünsche, dass es wirklich so wäre. Ist es nicht. Auftritt Frank Schirrmacher, 2012: „Nicht die Anonymität, sondern der ansteigende Grad der NICHT-anonymen Hass-Kommentare und -Mails, von Sarrazin bis Grass, ist beunruhigend.“
Das entspricht neben der Forschungslage auch meinen Beobachtungen über die Jahre. Ich habe mitbekommen, wie über 10.000 Leute auf Facebook, die meisten unter Klarnamen, die Wiedereröffnung eines KZ fordern. Wie Kindern eine Massenvergewaltigung gewünscht wird – unter Klarnamen. Wie klar benamte Rassisten sich ganz offen über den Tod von Flüchtlingen freuen. Wie schwarze, braune, jüdische oder behinderte Menschen, Transpersonen, Homosexuelle, Frauen und eigentlich alle außer knallweißen Krachmännern bedrängt, beleidigt, bedroht werden von Leuten, die sich einen gequirlten Quark um ihre Identifizierbarkeit kümmern.
Das technisch Verfolgbare wird nicht verfolgt
Gerade berichtet die stellvertretende Bundesvorsitzende der Grünen, Jamila Schäfer, wie ein Ermittlungsverfahren wegen einer Morddrohung eingestellt wurde – obwohl der Account einen Wohn- und einen Arbeitsplatz öffentlich angegeben hatte. Es scheint sich nicht um einen Einzelfall zu handeln, im Gegenteil. Auch 2020 führen verstörend viele eindeutige Tatverdachte im Netz ins Nichts – wegen Überlastung, mangels Netzsachkunde oder aufgrund zynischer Gesamteinstellung beteiligter Behörden. Die Nichtverfolgung des technisch Verfolgbaren ist eines der tatsächlichen Probleme, übrigens in Verbindung mit der oft mangelhaften Problemeinsicht und Kooperationsbereitschaft der großen Plattformen.
Quelle : Spiegel-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Partial map of the Internet based on the January 15, 2005 data found on opte.org. Each line is drawn between two nodes, representing two IP addresses. The length of the lines are indicative of the delay between those two nodes. This graph represents less than 30% of the Class C networks reachable by the data collection program in early 2005. Lines are color-coded according to their corresponding RFC 1918 allocation as follows: Dark blue: net, ca, us Green: com, org Red: mil, gov, edu Yellow: jp, cn, tw, au, de Magenta: uk, it, pl, fr Gold: br, kr, nl White: unknown…
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Unten — Sascha Lobo; 10 Jahre Wikipedia; Party am 15.01.2011 in Berlin.…