Keine linke Solidarität
Erstellt von DL-Redaktion am Donnerstag 3. März 2011
Wo bleibt die Solidarität der Linken ?
von Wieland von Hodenberg und caravane Göttingen
Die Revolten in den Maghreb-Staaten seien ein Wendepunkt für die gesamte Welt – und nicht nur für die Menschen dort. So steht es in einem pointiert formulierten Papier von Menschenrechtsaktivisten aus Göttingen, worin die Haltung der bundesdeutschen Linken zur Revolution in Nordafrika deutlich kritisiert wird.
Zu Recht – wie ich meine – denn an Solidarität mit den Befreiungsbewegungen scheint es hierzulande tatsächlich erheblich zu mangeln, von wenigen Ausnahmen wie der Bremer Montagsdemo einmal abgesehen! Es ist wohl längst noch nicht überall klar, daß nur starke internationale Solidarität mit örtlichen Revolutionen gegen die Unterdrücker und Ausbeuter die Dinge zum Besseren wenden kann. Hierzu braucht es allerdings endlich Revolutionen weltweit! Die Verbreitung und Befolgung dieses Göttinger Aufrufs halte ich für absolut notwendig, daher hier der volle Wortlaut:
Zu den Aufständen in den Maghreb-Staaten und dem (Nicht-) Verhalten der deutschen Linken
Während wir am 22. Januar diesen Jahres in Göttingen gegen Repression und Polizeigewalt auf die Straße gegangen sind, gingen bereits seit einigen Wochen in Tunesien Menschen unter großer Gefahr für ihr Leib und Leben gegen den brutalen Diktator Ben-Ali auf die Straße und revoltierten, bis sie ihn am Ende stürzten. Die beiden verhassten Diktatoren Ben-Ali und Mubarak sind innerhalb eines Monats durch die Aufstände zur Flucht gezwungen worden. Tunesien und auch Ägypten sind aber keine Einzelfälle geblieben – das Feuer des Aufstandes erreichte Länder wie Algerien, Jemen, Libyen, Syrien, Gaza und Iran.
Aber wieder zurück zum 22. Januar in Göttingen:
Zahlreiche DemonstrantInnen riefen auf der Demo „Alerta, Alerta, Antifascista!“ sowie forderten in Parolen die Revolution. Kein Wort von Solidarität mit den Kämpfenden in Tunesien und auch kein Wort über den Aufstand in Ägypten, obwohl es an diesem Tag zu heftigen Kämpfen mit der Polizei kam, die dabei äußerst brutal vorging. Noch Tage später sind kaum Worte von einer internationalen Solidarität in der Linken zu vernehmen, geschweige denn, dass das Thema weitergehend thematisiert wurde.
Es stellt sich die Frage, ob die sozialen und politischen Angriffe des Staates auf die Lebensbedingungen der Menschen hier so stark verschärft wurden, dass sich Teile der linksradikalen Szene nur noch um ihre eigenen Dinge kümmern bzw. sich gegen die staatlichen Repressionen verteidigen können. Oder will die Linke nicht mehr aus diesem Zustand der Isolation herauskommen und keinen Blick auf die weltweiten Zustände und die sozialen Kämpfe werfen?
Was wir hier in der BRD erleben, ist, dass die verschiedenen Kämpfe meist parallel verlaufen und keine gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge hergestellt werden – dies hat mit einer weltweiten sozialen Befreiung nicht mehr viel zu tun und ist eine verkürzte Definition der sozialen Kämpfe. Antifa´s bekämpfen die FaschistInnen; Antira´s den rassistischen Staat und seine Gesetze; die Antikriegsbewegung den Krieg und das Militär; die Arbeitsloseninitiativen den Sozialabbau. Diese strikte Trennung der Kämpfe ist eine eigenwillige und individuelle Anschauung der Welt.
Nicht falsch verstehen – niemand will, das die Linke auf ihre lokalen Kämpfe verzichten soll.
Selbstverständlich müssen wir uns gegen Faschismus wehren. Wir müssen uns gegen all jene wehren, die uns angreifen oder uns das Leben zur Hölle machen wollen.
Uns geht es vielmehr darum, dass die Vorstellung der Revolution, die einige Linke im Kopf haben, sehr individualistisch ist. „Revolution ja – aber je nach unserer Lust und unserem Interesse.“ Die derzeitigen Revolten und Kämpfe werden noch nicht als ein Prozess gesehen, der alle Menschen betrifft und an dem sich alle beteiligen sollten. Es ist für uns notwendig, unsere Kämpfe mit anderen sozialen Kämpfen zu verbinden und diese Notwendigkeit rechtzeitig zu verstehen.
Was bedeutet Solidarität in Zeiten wie diesen für uns? Solidarität ist keine moralische Forderung, sie ist keine Verpflichtung und kein Mitleid gegenüber Anderen. Solidarität ist eine Waffe und sie ist nur so stark, wie wir es sind. Deshalb sollten wir die Perspektiven unserer Kämpfe auch universal verstehen und unsere Kämpfe mit anderen Kämpfen verknüpfen. Für die Perspektive der Sozialen Befreiung geht es nicht um eine Strategie im Rahmen des Nationalstaates oder um euro-zentrische Sicht, sondern um eine Strategie für die ganze Welt, denn es geht dabei um die weltweite Barbarei des Kapitalismus.
Es existiert ein reiches Zentrum mit der herrschenden Klasse mit einer verarmten Peripherie. Die meisten Menschen in diesen kapitalistischen Zentren sind froh, in dieser Reichtumsverteilung die bessere Seite erwischt zu haben.
Aber niemand fragt nach und stellt die Zusammenhänge her, dass sämtliche modernen Waffentechnologien, die auch zur Zeit auf den Straßen in Libyen, Algerien, Marokko, Tunesien, Ägypten zur Unterdrückung der Aufständigen verwendet werden „made in Europe, USA, Germany“ usw. sind. Neben den damit erzielten Profiten für die Rüstungsindustrie dienen genau diese Geschäfte der Sicherung der politischen und wirtschaftlichen Interessen der westlichen Welt. Sie dienen der Flüchtlingsabwehr und der Sicherung der Festung Europa genauso wie der Aufrechterhaltung eines künstlichen Konstruktes von Nationalstaaten. Zur Verwirklichung ihrer Ziele nehmen sie den Tod der Aufständigen in den sozialen Kämpfen billigend in Kauf. Die kapitalistischen Zentren führen tagtäglich Krieg in den Ländern des Trikonts, aber hier im Herzen von Europa nimmt niemand diese Kriege wahr.
Fast überall in den „unterentwickelten Ländern“ haben die Europäischen Staaten, die USA, der Internationale Währungsfonds und die Weltbank die Lebenssituation von vielen Millionen Menschen zerstört und die Herrschenden und die kapitalistischen Zentren unterstützt. So ist es kein Zufall, das Europa und die USA die Aufständigen bis kurz vor dem Sturz der beiden verhassten Diktatoren zu „ Ruhe“ und „Stabilität“ in der Region aufgefordert haben.
Denn tatsächlich ging es dem Westen darum, ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen zu wahren. Und sie haben von Anfang an versucht, Angst vor der angeblichen Gefahr des Islamismus zu schüren und antisemitische Einstellungen in der ägyptischen Bewegung zu finden. Jedoch haben die islamistischen Kräfte z.B. in Gestalt der Muslimbruderschaft eine eher untergeordnete Rolle bei der Revolte in Ägypten gespielt. Die meisten Menschen dürften noch schockiert sein von der islamischen „Revolution“ 1979 im Iran und seiner Folgen. Mittlerweile versuchen sie die Angst vor „Flüchtlingsströmen“ zu schüren, wie das Beispiel auf der italienischen Insel Lampedusa zeigt.
Die Revolten in Tunesien und Ägypten haben ein anderes Bild gezeigt:
In Ägypten haben sowohl große Teile der Muslimbruderschaft, der national-reformistischen Partei El Tagammu und Al Beradie die Mittel der Aufständigen kritisiert. Sie verlangten, dass alle Konflikte mit dem Staatsapparat zu vermeiden wären und die Konflikte auf politischem Weg zu lösen seien. ArbeiterInnen, BäuerInnen und Jugendliche im ganzen Land wiesen solche liberal-konservativen Positionen zurück und lieferten sich trotz des Versuches der blutigen Niederschlagung des Aufstandes Straßenschlachten mit der Polizei, bis sie schließlich das Regime zu Fall brachten.
Die Revolten in den Maghreb-Staaten sind ein Wendepunkt für die gesamte Welt – nicht nur für die Menschen dort. Sie sind eine Antwort auf die weltweite, kapitalistische Barbarei und auch ein Antwort auf die kapitalistisch herrschende Klasse in ihren Ländern, die mit vielfältigen Masken auftritt: nationalistische Befreiungsfront, arabische Liga, sogenannte “sozialistische“ Herrscher, islamistische Führer. Diese haben die natürlichen Ressourcen in ihren Ländern unter Kontrolle und profitierten rücksichtslos durch die Ausbeutung der ArbeiterInnen und der ärmeren Bevölkerung.
Die Figuren Ben-Ali und Mubarak sind weg, aber die Regime bestehen immer noch. Es hat sich noch nichts Substantielles geändert. Die Kontrolle über das Land hat in Ägypten, und so ähnlich auch in Tunesien, das Militär.
Aber sie können keine weiteren Aufstände verhindern. Die grundlegenden sozialen Probleme, die die Aufstände hervorgerufen haben, bleiben ungelöst, was weitere Unruhe sehr wahrscheinlich werden lässt. Die Kraft der Aufständigen gegen die Herrschenden und für soziale Veränderungen ist in der nächsten Zeit entscheidend. In Ägypten haben bereits eine Reihe von ArbeiterInnenstreiks unter anderem in der Textilindustrie, im Wohnungsbau, sowie bei den Telekommunikationsbehörden begonnen. In den Betrieben werden unabhängige Gewerkschaften gegründet. Junge und ältere Aufständige haben bereits ein Komitee zur Verteidigung der Revolution geschaffen, das weitere Aktivitäten organisieren soll, wenn es erforderlich ist. Das Wissen über den Erfolg des Widerstandes wird nicht mehr so schnell aus den Köpfen der Menschen verschwinden.
Unter anderem waren folgende Parolen auf den Straßen zu hören:
As-Schaab jurid isqat al-nizham !
Das Volk will den Sturz des Systems!
Chobz, hurriya, karama
Brot, Freiheit, Würde
Erkennen wir endlich die Zusammenhänge und die Notwendigkeit zwischen unseren und den weltweiten Kämpfen und zeigen unsere Solidarität. Unterstützen wir die weltweiten sozialen Kämpfe gegen Ausbeutung und Unterdrückung.“
Aufruf zu einer praktischen Solidarität mit den Aufständigen.
Wer der Praxis des „jede_r-für-sich“ in dieser Gesellschaft wirklich auf den Grund gehen will, wird nicht um den Schritt herum kommen, die Wurzeln des Elends im kapitalistischen System zu suchen.
Um eine praktische Solidarität mit Aufständigen zu leisten, haben wir uns, einige Linke in Göttingen, zusammengeschlossen, um eine Solidaritätsgruppe zu gründen. Es geht um eine internationale Perspektive – Leute, die sich mit jeglichen Nationalstaaten identifizieren sind bei unserem Treffen unerwünscht.
Ein Treffen findet am Donnerstag, den 03. März 2011, um 19 Uhr im Bildungswerk der Verdi, Rote Straße 19, statt. Ihr seid alle recht herzlichst dazu eingeladen, vorbeizukommen und mitzuarbeiten.
Quellennachweis:
Goettinger Statdtinfo
STOPPTSPAM.wielandvonhodenberg@web.de
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Grafikquelle: Später Erfolg nach 40 Jahren: 2009 wurde Gaddafi für ein Jahr zum Präsidenten der Afrikanischen Union gewählt