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Jungs weinen nicht

Erstellt von Redaktion am Sonntag 1. Januar 2023

Deutsche Männer leben fast fünf Jahre kürzer als Frauen

Wie gut für die Politik das es dort keine Männer gibt – sondern nur Abzocker.

Ein Debattenbeitrag von Thomas Gesterkamp

Traditionelles männliches Verhalten kann krank machen. Der ruinöse Umgang des „starken Geschlechts“ mit Gesundheitsproblemen ist noch zu wenig untersucht.

Ein Schlagwort kursiert seit den 2010er Jahren in der geschlechterpolitischen Debatte: die “toxische Männlichkeit“. Diesen Begriff verwendet auch Jack Urwin in seinem Buch „Boys don’t cry“ (Jungen weinen nicht), das er als Reaktion auf das frühe Sterben seines Vaters schrieb. Der britische Autor schildert, wie starre Rollenbilder vom starken, wilden und unbesiegbaren Mann das Verhältnis zum eigenen Körper prägen. Er warnt, dass der Mythos der Maskulinität toxisch sein oder gar tödlich enden kann – und er sucht nicht, wie es manche Männerrechtler tun, die Schuld dafür bei den Frauen. Für sein „brillantes, persönliches, nicht einmal sexistisches“ Werk lobte ihn die Londoner Feministin Laurie Penny.

Die Führungspositionen im Gesundheitswesen waren lange Zeit männlich besetzt. In den Krankenhäusern dominierten Halbgötter in Weiß die Visiten und erst recht die Operationssäle. Frauen assistierten als Pflegerinnen oder leisteten technische Hilfsdienste. Auch die pharmazeutische Industrie agierte weitgehend geschlechtsblind. Die Hersteller von Medikamenten testeten neu entwickelte Arzneimittel vorrangig an männlichen Probanden, für Frauen konnte das lebensbedrohliche Folgen haben. Heute gibt es deutlich mehr Ärztinnen als vor Jahrzehnten, 70 Prozent der Studierenden in der Medizin sind mittlerweile weiblich. Gendersensible Ansätze haben dennoch kaum Gewicht. Und auch die Nachwirkungen einer wie Gift wirkenden Männlichkeit sind wissenschaftlich noch wenig untersucht.

Der „toxische“ Mann sorgt nicht gut für sich selbst. Er behandelt seinen Körper wie eine Maschine, die nur dann gewartet werden muss, wenn sie überhaupt nicht mehr funktioniert. Nach der Devise „Indianer kennen keinen Schmerz“ beißt er die Zähne zusammen, erst recht vermeidet er jede Gesundheitsprophylaxe. Die bewusste Vorsorge wird ihm allerdings auch nicht leicht gemacht. Schon Mädchen und junge Frauen werden aktiv von den Krankenkassen angeschrieben, Früherkennung im gynäkologischen Bereich ist Routine und wird selbstverständlich von den Versicherungen übernommen. Wollen sich dagegen Männer zum Beispiel gegen Prostatakrebs schützen, müssen sie oft explizit nachfragen – und notwendige Tests selbst bezahlen.

Die Schattenseiten althergebrachter Verhaltensmuster belegt drastisch das sogenannte „Life Expectancy Gap“. Im Durchschnitt ist die Lebenserwartung deutscher Männer nach aktuellen Daten um 4,8 Jahre geringer als die von Frauen. In der Hochphase der Industriearbeit betrug diese Differenz sogar acht Jahre. In Russland und Belarus liegt die Kluft immer noch bei über zehn, in der Schweiz oder in Island dagegen bei nur drei Jahren.

Sterblichkeit korreliert mit sozialen und geschlechtsspezifischen Unterschieden. Seit 1980 verringert sich der Abstand zwischen Männern und Frauen, die Forschung erklärt das mit der Annäherung der Lebensverläufe. Die wegweisende Klosterstudie des Wiener Demografen Marc Luy, der 2002 die Biografien von Nonnen und Mönchen verglich, ergab ein körperlich bedingtes Gefälle von nur einem Jahr. Der frühere Tod des „starken Geschlechts“ ist demnach kein biologisches Naturgesetz. Er ist auf gesellschaftliche Bedingungen und Normen zurückzuführen.

Viele Männer ignorieren Schmerz, Trauer, Krankheiten und körperliche Symptome. Sie arbeiten und leben ungesund, gehen selten zum Arzt, ernähren sich falsch, nehmen mehr Drogen als Frauen. Und sie haben die gefährlicheren Jobs: 95 Prozent der Verunglückten bei Arbeitsunfällen mit Todesfolge sind männlich. Dennoch sind die Folgen rigider Anforderungen und riskanten Verhaltens erst seit ein paar Jahren Gegenstand gründlicher empirischer Forschung. Auch in politischen Debatten hatte das Thema lange keine Bedeutung. Ein 2020 veröffentlichtes Dossier des Bundesfamilienministeriums zur „partnerschaftlichen Gleichstellungspolitik“ widmet der „Gesundheit und Zufriedenheit“ von Jungen und Männern immerhin zwanzig Seiten.

Die Frauenbewegung schärfte einst den ­geschlechterbezogenen Blick auf die Medizin. Schon vor der Jahrtausendwende entstanden ­feministische Selbsthilfezentren und Gesundheits­berichte aus weiblicher Perspektive, beides wurde bald auch öffentlich gefördert. Dem stand lange kein männliches Pendant gegenüber, dann aber wurden die Rufe nach Förderung und Prävention auch für Männer lauter. 2014 legte das Robert-Koch-Institut (RKI) eine erste Studie vor– und machte so, nun auch staatlich ­finanziert, ­spezifische männliche Probleme deutlich. Schon zuvor war die regierungsunabhängige, von S­penden getragene Stiftung Männergesundheit mit ­eigenen Untersuchungen vorgeprescht. Wichtige Ergebnisse waren unter anderem: Männer haben ein höheres Schlaganfall-Risiko, sie sind häufiger übergewichtig und alkoholkrank, sie stellen die deutliche Mehrheit der Verkehrstoten. Und: pro Tag sterben in Deutschland rund 25 Menschen durch Suizid, 76 Prozent davon sind männlich.

Die Datenlage hat sich deutlich verbessert, bei der Umsetzung hapert es noch. Die Expertise des Familienministeriums stellt fest, dass „Gesundheitsrisiken bildungsferne Männer überdurchschnittlich treffen“; zudem sei der Übergang in den Ruhestand „für erwerbsorientierte Männer eine besondere Herausforderung“. Der zweite Gleichstellungsbericht der Bundesregierung verlangte 2017, dass „Strukturen erkannt und beseitigt werden, die Männer aufgrund des Geschlechtes an der Verwirklichung ihrer Lebensentwürfe hindern“. Im November 2022 präsentierte die Stiftung Männergesundheit ihre bereits fünfte Studie. Den Schwerpunkt bildet eine Befragung junger Männer, im Kontrast zum Vorgängerbericht, der sich auf ältere Männer kurz vor der Rente konzentrierte. Repräsentativ wurden zweitausend Gesprächspartner unter 28 Jahren interviewt, als Kontrollgruppe auch tausend Frauen im gleichen Alter. Als zentrale Erkenntnis konstatiert die Untersuchung: „Gesundheitsbewusstsein, Gesundheitsverhalten und Gesundheitsstatus der jungen Männer ist mit ihrer jeweiligen Vorstellung von der männlichen Geschlechtsrolle verbunden“.

Männer schätzen sich gesünder ein als Frauen, obwohl dies mit der statistisch erfassten Verteilung von Krankheitsbildern nicht übereinstimmt. Herkömmliche Rollenbilder führen zur Vernachlässigung der Sorge für sich selbst. Beispiele aus dem aktuellen Datenpool sind die viel ausgeprägtere männliche Spielsucht, der Mangel an Achtsamkeit nach Sport oder Partys für körperliche Erholungsphasen sowie der höhere Konsum von Rauschmitteln. Beim Rauchen liegen beide Geschlechter inzwischen nahezu gleichauf. Frauen haben in der jüngeren Generation „bei negativen, sie schädigenden Verhaltensweisen aufgeholt“, resümiert Kurt Miller, früherer Direktor der Urologischen Klinik an der Berliner Charité und jetzt medizinischer Vorstand der Stiftung Männergesundheit.

Quelle          :          TAZ-online            >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —    Altkanzler Gerhard Schröder als Öl- und Gasoligarch der russischen Konzerne Gazprom und Rosneft.

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