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Interview M. – Friedmann

Erstellt von Redaktion am Samstag 27. Januar 2018

„Sie sind genauso gemeint, auch wenn Sie kein Jude sind“

Michel Friedman und Luc Jochimsen.jpg

Interview Ulrich Gutmair

Wer sich gegen Antisemitismus nur einsetzt, weil er Juden helfen will, hat nicht begriffen, was Menschenhass ist, sagt Michel Friedman. Ein Gespräch zum 27. Januar, dem Tag der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee.

taz am wochenende: Herr Friedman, die Familien Ihrer Mutter und Ihres Vaters sind in Auschwitz ermordet worden. Ist für Sie der 27. Januar ein besonderer Tag?

Michel Friedman: Das ist eine schwere Frage. Die Trauer über die Ermordung meiner ganzen Familie mit Ausnahme meiner Mutter, meines Vaters und meiner Großmutter seligen Angedenkens ist unendlich und begleitet mich ständig. Ich bin auf einem Friedhof geboren. Meine Eltern und meine Großmutter waren lebenslang in ihrer Seele verletzt. Trauer war eines der prägnantesten Gefühle in ihrem Leben. Aber genauso groß war ihr Unverständnis darüber, wie es möglich ist, dass Menschen andere Menschen umbringen, weil sie anders scheinen. Wie es möglich ist, daraus sogar eine „moral-politische“ Notwendigkeit zu fabulieren. Meine Mutter hat mir immer gesagt: „Ich habe den Hass und die Gleichgültigkeit in Reinkultur erlebt. Ich kann dir, mein Kind, nur raten, nie zu hassen. Denn der Hass begleitet den Hassenden 24 Stunden lang.“ Für mich ist der 27. Januar daher kein besonderer Tag, mich mit dem Thema des Judenhasses und der sehr konkreten Konsequenzen, die er auf mein Leben hatte, auseinanderzusetzen.

Dieser Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialis mus ist seit 1996 ein bundesweiter, gesetzlich verankerter Gedenktag. Wie sollte dieses Gedenken konkret ausgestaltet werden?

Bevor man zur Therapie kommt, muss man die Diagnose formulieren. Nicht einmal ein Prozent der unmittelbaren Täter und Täterinnen, nämlich all jener, die in Konzentrationslagern gearbeitet haben, sind seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland vor einem deutschen Gericht zur Verantwortung gezogen worden. In den Auschwitzprozessen in den Sechzigern wurde formuliert, dass diejenigen, die nur mittelbar in Verantwortung stehen, nicht rechtlich belangt werden können. Das wurde erst vor Kurzem in der Rechtsprechung geändert. Zum ersten Mal ist ein über neunzigjähriger Deutscher, der damals für Fragen der „Buchhaltung“ verantwortlich war, wegen der Beteiligung an der Ermordung von 300.000 Juden verurteilt worden. Zugleich waren Millionen von Deutschen nach 1945 wieder als Polizisten, Verwaltungsbeamte, Politiker, Wirtschaftsführer an führenden Positionen. Lehrer haben wieder Kinder erzogen. Wie viele haben ihre Naziüberzeugungen wirklich abgelegt?

Ohne Gerechtigkeit und ohne Selbstbefragung kann es kein Gedenken geben?

Der Endpunkt der Gewalt, Auschwitz, wurde nach 1945 von den meisten Deutschen verurteilt, aber über die Anfangspunkte der Gewalt wurde weiterhin nicht gesprochen. Denn da waren es doch fast alle Deutsche, die dabei waren. Bei der Pogromnacht in Berlin, Frankfurt oder München. In Städten und Dörfern brannten Religionshäuser, und niemand reagierte. Es war eine millionenhafte Verstrickung, als die Juden abgeholt wurden und durch die Finanzämter Zwangsvollstreckungen ihres Mobiliars stattfanden. Was bedeutet das denn, wenn mein Nachbar für wenig Geld meine Teppiche, mein Besteck, meine Möbel kauft? Glaubt dieser Nachbar, ich komme je wieder?

Es wird viel darüber gesprochen, dass es schwierig werde, diese Erfahrungen zu vermitteln, weil es 73 Jahre nach Kriegsende immer weniger Überlebende gibt.

Ich wurde über Jahrzehnte von Schuldirektoren angerufen, die sagten: „Wir wollen mit den Kindern reden, aber wir brauchen Zeitzeugen, es gibt so wenige Überlebende.“ Ich habe dann gesagt: „Sie irren sich, es gibt Millionen Überlebende. Fragen Sie Ihren Vater oder Ihren Großvater.“ Das Gedenken ist die Aufgabe der deutschen Gesellschaft gewesen. Die Täter und deren Kinder mussten sich die Frage stellen: Wie konnten wir so werden? Und sie mussten symbolisch zum Ausdruck bringen: Wir lernen. In Wirklichkeit verschonten sich die Tätergeneration und ihre Kinder aber weitgehend. Sie stritten eben nicht genügend zu Hause. Ralph Giordano nannte das die „zweite Schuld“. Die Enkel der Nazigeneration sind jetzt ebenfalls erwachsen. Es gibt viele engagierte Menschen, auch in der jüngeren Generation, die sich mit ihren Familiengeschichten auf der Täterseite auseinandersetzen. Aber dennoch ist in der Mehrheit im Alltag zu wenig geschehen, als dass in der Erinnerungskultur ein zuverlässiges Fundament entstanden wäre.

Quelle    :      TAZ         >>>>>       weiterlesen

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Grafikquelle    :

Michel Friedman and Luc Jochimsen

 

 

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