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In geschlossener Gesellschaft

Erstellt von Redaktion am Mittwoch 30. Dezember 2015

In geschlossener Gesellschaft

Ostmitteleuropa und die Rückkehr des Autoritären

von Helmut Fehr

„Wir haben sie nicht eingeladen“, erklärt der tschechische Präsident Miloš Zeman. Und die abgewählte polnische Ministerpräsidentin Ewa Kopacz bekräftigt ebenso wie ihre Amtskollegen aus den Visegrád-Staaten, dass „Wir“ nicht für Flüchtlinge zuständig sind. Das sind nur zwei von vielen Reaktionen ostmitteleuropäischer Politiker auf die Flüchtlingskrise. Sie werden durch Warnungen untermauert, die an politische Geisterbeschwörung grenzen und der Devise folgen: „Stopp“ der „Islamisierung Europas“.

Jarosław Kaczyński, der starke Mann in Polen und Vorsitzende der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) sieht sogar die Gefahr, dass die Flüchtlinge den Einheimischen zukünftig ihren Lebensstil aufzwingen werden. Gemeinsam ist den Machteliten in Ostmitteleuropa – von Orbán über Kaczyński und Duda bis Zeman und Fico –, dass sie in der Flüchtlingskrise und noch befördert durch die islamistischen Terroranschläge den Kitt ethnischer Solidarität in einem Ausmaß beschwören, das bis zu politischer Hysterie reicht: Ungarn stehen gegen „Nicht-Ungarn“, „wahre Polen“ gegen „Anti-“ und „Nicht-Polen“. Auch der Stereotyp der „Anti-Tschechen“ wird wieder entdeckt.

Während Viktor Orbán ständig die Bedrohung der tausendjährigen christlichen Kultur Ungarns durch islamische Flüchtlinge beschwört, sieht Jarosław Kaczyński Gefahren der „Überfremdung“ bis in das Alltagsleben. In den osteuropäischen Elitendebatten kommen derzeit Vorstellungen an die Oberfläche, die lange Zeit nur von populistischen Politikern genutzt wurden: der Rückgriff auf Vorurteile und ethnisch geprägte Wir-Gefühle. So stellt der slowakische Premier Robert Fico fest, dass die Slowakei „für Slowaken“ gebaut sei. Sein Amtskollege Orbán beschwört ebenso wie der PiS-Vorsitzende Kaczyński gar den Niedergang von Nationalstaaten und europäischer Kultur durch Epidemien: „Es gibt Infektionsrisiken und Massen von Einwanderern, die nicht willens sind und immer aggressiver werden. Menschen sind besorgt und verängstigt – nicht nur in Ungarn, sondern in ganz Europa.“

Die Einwanderung werde „irreparable Schäden“ an den „Volkskörpern“ anrichten, erklärt Orbán. Und er beschwört mit dramatischen Worten: „Von einem multikulturellen Europa gebe es „kein Zurück“, „weder zu einem christlichen Europa noch zu einer Welt nationaler Kulturen“. Darin ist er sich mit den anderen Visegrád-Regierungschefs einig, wie die wiederholte Polemik slowakischer, tschechischer und polnischer Politiker gegen „Multikulturalismus“ unterstreicht.

Offensichtlich bietet die Flüchtlingskrise den willkommenen Anlass für die neuen Eliten in Ostmitteleuropa, sich polemisch gegenüber der Brüsseler Politik abzusetzen. Daneben werden Forderungen zum Schutz der Grenzen als „realistische“ Politik verkündet. Der stellvertretende tschechische Ministerpräsident Babiš schlug bereits den Einsatz von Nato-Truppen zur Sicherung der EU-Außengrenzen vor, der tschechische Präsident Zeman will Soldaten an den nationalen Grenzen postieren. Und die ungarische Regierung baut längst auf Maschendrahtzäune – ergänzt durch Soldaten – zur Sicherung der Grenzen gegen Flüchtlinge.

Noch in den 1990er Jahren verband die neuen politischen Eliten in Ostmitteleuropa eine Forderung: die der „Rückkehr nach Europa“. Dieser Slogan war als Wiederbelebung europäischer Werte gemeint. Und dies in einem Sinn, der den ethischen Handlungsimperativen einer Zivilgesellschaft entsprach, wie die Selbstverständigungsdebatten der Bürgerbewegungen vor und nach 1989 dokumentieren. Davon ist heute – in der Flüchtlingskrise – nichts mehr übrig.

Für sich selbst wurde mit der „Rückkehr nach Europa“ ein Recht auf Teilhabe an Wohlfahrt und Lebensstandard als selbstverständlich gefordert, das gegenüber den Flüchtlingen in der Gegenwart radikal verneint wird. Stattdessen wird den Flüchtlingen ein „Grundrecht auf ein besseres Leben“ in engherziger Weise abgesprochen. Jan T. Gross, ein nach den polnischen Studentenprotesten von 1968 in die USA emigrierter Sozialwissenschaftler, fragt völlig zu Recht: „Haben die Osteuropäer kein Schamgefühl? Seit Jahrhunderten sind ihre Vorfahren massenweise ausgewandert, um materiellem Elend und politischer Verfolgung zu entkommen. Und heute spielen das herzlose Verhalten und die kaltschnäuzige Rhetorik ihrer Politiker dem Populismus in die Hände.“

Die »falschen Realisten«

In der politischen Arena der ostmitteleuropäischen Gesellschaften tritt damit heute ein Haltungstyp zutage, der nur auf den ersten Blick neu erscheint. Als „falsche Realisten“ bezeichnete sie schon István Bibó 1946 in einer Studie zur politischen Kultur Ostmitteleuropas: „Charakteristisch für diesen Typus […] war zweifellos neben Talent eine gewisse Bauernschläue und Brutalität, die in hervorragender Weise dazu befähigte, zum Verwalter und Hüter antidemokratischer Regierungsformen oder gewaltförmiger politischer Scheinkonstruktionen zu werden.“ Auf diese Weise, eben mit Bauernschläue und Brutalität, verschafften sich Orbán, Kaczyński und Klaus das „Renommee des ‚großen Realisten‘“ und verdrängten den „westeuropäischen“ [liberalen, d.A.] Politikertypus, der als „doktrinär“ oder „idealistisch“ abgewertet wurde.

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Fotoquelle: Wikipedia – Manneken Pis Brussel / Urheber Pbrunde–/– CC BY-SA 3.0

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