DEMOKRATISCH – LINKS

                      KRITISCHE INTERNET-ZEITUNG

RENTENANGST

Im Fahrstuhl nach unten:

Erstellt von Redaktion am Mittwoch 16. Mai 2018

Marx und die Abstiegsgesellschaft

von Oliver Nachtwey

Ich bin sicher, dass wir eine Renaissance des Marxismus erleben werden.“ Dieser Satz stammt nicht von Karl Marx, der ja bekanntlich gar kein Marxist sein wollte, sondern vom Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx. Es sind wirklich besondere Zeiten. Selbst auf die Katholiken und ihren Antikommunismus ist in der heutigen Welt kein Verlass mehr. Kein Zweifel: Im Jahr seines 200. Geburtstages erlebt der große Mann aus Trier eine erneute Renaissance.

Heute sind es längst nicht mehr allein die Periodika der Linken, die Marx auf den Titel setzen. Im 21. Jahrhundert haben des Marxismus unverdächtige Zeitschriften wie der britische „Economist“ (das Hausblatt der – wie Marx sie genannt hätte – internationalen Bourgeoisie) ihm Titelgeschichten gewidmet. „Vielleicht hat Karl Marx recht“, twitterte „Bloomberg“, einer der zentralen Informationsdienste der Wall Street, und die „Neue Zürcher Zeitung“ widmete dem Comeback des Marxschen Ideologiebegriffs eine ganze Seite.

Nur wenige Denker des 19. Jahrhunderts sind auch heute in der Öffentlichkeit so präsent – ob Marx trotz seiner Inthronisierung als Klassiker für die Gesellschaftsanalyse weiter relevant ist, bleibt jedoch auch mit zunehmender zeitlicher Distanz zum Epochenbruch 1989 umstritten. Die Forschungsvorhaben an wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten ignorieren den Ökonomen Marx jedenfalls geflissentlich und in den allermeisten Lehrplänen firmiert er bloß als musealisierte Fußnote der Geschichte ökonomischer Ideen. Eine von prominenten Historikern, etwa jüngst von Gareth Steedman Jones, vorgebrachte Perspektive über die Theorien von Karl Marx lautet denn auch, dass es sich um die Auffassungen eines Denkers des 19. Jahrhunderts handelt, der über die Verhältnisse dieses Jahrhunderts geschrieben habe. Über unsere moderne Welt habe Marx aber nur wenig zu sagen.

Aber ist das wirklich so – oder verhält es sich nicht genau umgekehrt, war also Marx seiner damaligen Zeit weit voraus?

Der Historiker Eric Hobsbawm weist darauf hin, dass die Welt, die Marx und sein Ko-Autor Friedrich Engels 1848 im „Manifest der Kommunistischen Partei“ mit gleichermaßen düsteren und bewundernden Worten beschreiben, wenig mit jenen gesellschaftlichen Realitäten zu tun hatte, die unserem Bild von Industrialisierung und Moderne entsprechen. In den meisten Teilen der Welt gab es damals noch keine Fabriken, die Landwirtschaft war der zentrale Ort der Produktion. Die Welt zu Marx’ Zeit glich einer zaghaften Anfangsphase der sich entfaltenden Moderne, nicht mehr als ein bescheidener Vorbote dessen, was noch kommen sollte. Jene Ordnung, die im Kommunistischen Manifest beschrieben werde, so Hobsbawm vor 20 Jahren, gleiche allerdings viel eher der Gesellschaft an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Man mag diese Einschätzung für plakativ und übertrieben halten, aber Hobsbawm trifft einen zentralen Punkt: Die Aktualität der Marxschen Analyse hat mit Bezug auf die kapitalistische Produktionsweise im Verlauf der Jahre, in verschiedenen Zyklen, mehr zu- als abgenommen.

Die 1990er Jahre oder: Der Beginn der jüngsten Marx-Renaissance

Die jüngste Renaissance von Marx begann bereits in den 1990er Jahren. Zuvor hatte er eher einem erloschenen Stern geglichen: Man konnte ihn noch am Firmament der Politik und der wissenschaftlichen Debatten erkennen, aber seine Strahlkraft war längst verglüht. Nach den Ereignissen von 1967/68 erfuhren Marx‘ Schriften zwar zunächst eine neue Konjunktur. Vor allem die Studierenden stürzten sich in eine erneuerte Marx-Lektüre, die sich gleichermaßen gegen die „marxistisch-leninistische“ Scholastik wie gegen die sozialdemokratische Domestizierung von Marx wandte. Zu diesem Zeitpunkt beeinflusste Marx die Welt wie kaum ein anderer Intellektueller. Aber die Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 säte Zweifel in fast allen sich auf Marx beziehenden politischen und akademischen Strömungen. Der Zyklus der emphatischen Marx-Rezeption neigte sich seinem Ende zu und die Praxis sowohl östlicher wie westlicher Marxisten nach 1968 tat ihr Übriges, um dem Marxismus seine kurz wiedererlangte Frische zu nehmen.

Drei weitere, miteinander zusammenhängende Faktoren trugen ferner erheblich dazu bei, dass Marx zumindest in der westlichen Hemisphäre an Bedeutung verlor: die ökonomische Prosperität, der soziale Aufstieg und die politische Integration der Arbeiterparteien. Nach dem Zweiten Weltkrieg schien es im Lichte langanhaltender hoher Wachstumsraten und erfolgreicher staatlicher Interventionen in die Konjunktur so, als gehöre die strukturelle Krisenneigung des Kapitalismus der Vergangenheit an. Die Nachkriegsprosperität trug erheblich dazu bei, dass für die Arbeiterschaft ein signifikanter sozialer Aufstieg in den westlichen Kapitalismen möglich wurde. Auch wenn die Früchte des Wohlstandes höchst ungleich zwischen den Klassen verteilt und die Ungleichheitsverhältnisse von Geschlecht und ethnischer Abstammung virulent blieben, von einer von Marx und Engels im kommunistischen Manifest noch postulierten Tendenz zur sozialen Polarisierung und Proletarisierung konnte keine Rede sein – eher im Gegenteil. Eine solche Konstellation ökonomischer Prosperität hatte Marx nicht vorausgesehen, war er doch von einer Abfolge von Krisen und sich verschärfenden Klassengegensätzen ausgegangen. Ökonomen wie Simon Kuznet konnten während dieser Zeit eine andere Erzählung stark machen: Wirtschaftliches Wachstum würde im Anfangsstadium der kapitalistischen Entwicklung die Ungleichheit zwar erhöhen, später würde es aber zu ihrer Verringerung beitragen. Die sozialen Tatsachen schienen ihnen auch zunächst recht zu geben: Statt einer allgemeinen Proletarisierung entstanden tatsächlich auch breite Mittelklassen, die mit der Marktwirtschaft buchstäblich gut leben konnten. Während dieser Veränderungen waren die alten Arbeiterparteien schon längst keine Feinde des kapitalistischen Staates mehr. Sie sahen im Lichte erfolgreicher Verteilungskämpfe den Sozialstaat als das adäquate Mittel an, Kapitalismus und Demokratie in Einklang zu bringen sowie die Risiken des Marktes für die Arbeiterschaft einzuhegen. So wurde Marx selbst in der Arbeiterbewegung als ein Prophet vergangener, längst überwundener Zustände eingeordnet. Er blieb prominent als nostalgische Erinnerung an kämpferische Zeiten. Die Klassenkonflikte selbst wurden während dieser Zeit sukzessive institutionalisiert und die sozialen Konflikte verschoben sich auf andere Konfliktlinien: hin zur Ökologie- oder Friedensbewegung oder zu den Kämpfen um Gleichberechtigung. Gleichzeitig erfolgte eine Orientierung an Theorien, die jene Entwicklungen adäquater beschrieben als Marx, dessen Schriften hierzu zwar mehr als nichts, aber insgesamt doch wenig aussagen.

Globaler Kapitalismus und westlicher Postwachstumskapitalismus

Doch bereits Anfang der 1970er Jahre bekam dieser – aus heutiger Sicht verfrühte – Abschied von der Marxschen Erzählung erste Risse. Im Jahr 1973 begann, wie es der marxistische Historiker Robert Brenner nannte, der lange Abschwung der westlichen Kapitalismen. Konjunktur- und Finanzkrisen nahmen wieder zu, während die Wachstumsraten nicht mehr das Niveau der Nachkriegszeit erreichten. 1973 begann auch die Internationalisierung der Wirtschaft erneut Fahrt aufzunehmen. Schon im „Manifest der Kommunistischen Partei“ befindet sich eine Antizipation dieser Entwicklung, wenn Marx schreibt, dass das „Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte […] die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel [jagt]. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.“  Marx’ Begriff des „Weltmarkts“ bietet einen Zugang zu jenen Phänomenen, die wir heute mit dem Begriff der „Globalisierung“ bezeichnen. Der „Weltmarkt“ bildete für Marx eine Schlüsselkategorie der Analyse des entfalteten Kapitalismus. Er verstand die räumliche Expansion des Kapitals als Konsequenz der Steigerungslogik des Kapitalismus, dessen Entstehung er umgekehrt nur vor dem Hintergrund der Aneignung von Kapital im Zuge der Kolonialisierung interpretierte. Diese wahrhaft globale Perspektive, aus der der Weltmarkt zugleich Folge und Voraussetzung kapitalistischer Akkumulation ist, löste Marx nicht konsequent ein. Aber er schreibt zum Beispiel in den„Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“: „Die Tendenz, den Weltmarkt zu schaffen, ist unmittelbar im Begriff des Kapitals selbst gegeben. Jede Grenze erscheint als zu überwindende Schranke.“ All diese Schranken werden schließlich auch durch die Entwicklung der Produktivkräfte überschritten und die Herstellung des Weltmarkts wird zu einer der „Haupttatsachen der kapitalistischen Produktion“.

File:KarlMarxEnglish.png

Die Finanzkrise von 2008 als Konjunkturprogramm für Marx

Zu den Haupttatsachen des Gegenwartskapitalismus gehört auch die zentrale Bedeutung der Finanzmärkte. In der spezifischen Tauschform der Finanzsphäre werden keine Waren, sondern nur noch fiktive Geldtitel gehandelt. Aus Geld wird darin mehr Geld, was bereits im Marxschen Akkumulationsschema der vervollkommneten Selbstvermehrung des Kapitals zum Ausdruck kam. Der dabei von Marx entwickelte Begriff des „fiktiven Kapitals“ und seine Einlassungen über das Kreditwesen wurden deshalb zur Grundlage für eine Reihe substanzieller Beiträge zur Analyse der Finanzkrise 2008.Seit dieser globalen Krise erlebt Marx sogar eine kleine Hochkonjunktur. In der Öffentlichkeit und an den Universitäten wurde der Begriff des Kapitalismus (zuvor sprach man in der Regel nur von Marktwirtschaft) wieder zu einer legitimen analytischen Kategorie. Eine Referenz auf Marx erntete nunmehr ein vorsichtig zustimmendes Nicken statt des obligatorischen Kopfschüttelns. Eine geschichtsmächtige, sich auf Marx beziehende soziale Bewegung ist bisher jedoch nicht wieder entstanden, und wahrscheinlich erscheint die Bezugnahme auf dessen Ideen genau aus diesem Grund heute kaum mehr subversiv. Marx schafft es mittlerweile sogar regelmäßig in die Debatten jener Kreise, die historisch gesehen zu seinen Gegnern zählen. In seinem Denken sehen diese offensichtlich keine Gefahr mehr, sondern primär eine Chance zur Analyse einer hochgradig widersprüchlichen Zeit. Und das aus gutem Grund: Denn anders als in den Wirtschaftswissenschaften, die trotz aller Eleganz ihrer mathematischen Systeme immer noch an der Annahme festhalten, dass Märkte im Grunde zu einem Gleichgewicht und Stabilität neigen, ist Marx’ Theorie geprägt von der Perspektive innerer Widersprüche, Instabilitäten und Krisen.

Marx analysiert mit seinem Begriff der kapitalistischen Produktionsweise den Zusammenhang von Produktivkräften (Technologie und Organisation der Produktion) sowie Produktionsverhältnissen (Eigentumsverhältnisse und Herrschaft). In allen historischen Produktionsweisen haben Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse jeweils spezifische Ausprägungen gefunden: „Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten“, schreibt Marx in „Das Elend der Philosophie“.

Im Unterschied zu den vorkapitalistischen Produktionsweisen ist die kapitalistische durch das strukturell verankerte Motiv der Profitmaximierung gekennzeichnet, deren Allgegenwärtigkeit sich niemand entziehen kann. „Akkumuliert, Akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten! ‚Die Industrie liefert das Material, welches die Sparsamkeit akkumuliert.’ [Adam Smith] Also spart, spart, d. h. rückverwandelt möglichst große Teile des Mehrwerts oder Mehrprodukts in Kapital! Akkumulation um der Akkumulation, Produktion um der Produktion willen, in dieser Formel sprach die klassische Ökonomie den historischen Beruf der Bourgeoisperiode aus.“

Der Kapitalist unterliegt dem Zwang zur beständigen Akkumulation, sonst ist er dem Untergang geweiht. Aus diesem Grund ging Marx mit dem individuellen Kapitalisten mitunter sogar milder ins Gericht als mit seinen politischen Gegnern.

Ja, Marx bewunderte den Kapitalismus für seine innere Dynamik, hatte er doch zu einer bis dahin nicht gekannten Entfesselung der ökonomischen Kräfte geführt. Allerdings nahm er auch an, dass die Profitrate, also das Verhältnis von Gewinnen und vorgeschossenem Kapital, tendenziell fällt, was immer wieder zu Krisen und zu Stagnation führen werde. Der Grund hierfür liegt laut Marx in der Konkurrenz zwischen den Unternehmen, die diese zwingt, die Produktion zu rationalisieren, um die Produktivität zu erhöhen und somit im Verhältnis zum Kapitaleinsatz stetig Arbeitskräfte einzusparen. Das ist betriebswirtschaftlich völlig rational, hat volkswirtschaftlich aber gravierende Auswirkungen. Schließlich müssen sich alle Unternehmen dieser Logik beugen, wodurch die Zahl der Beschäftigten langsamer steigt als der Kapitaleinsatz. Dabei ist – und bleibt – für Marx die Arbeit der Ursprung des Profits, die Quelle von Mehrwert, ohne die das System nicht überleben kann. Der Doppelcharakter der Arbeit, gleichzeitig Gebrauchs- und Tauschwert zu sein, ist für Marx der „Springpunkt“ der politischen Ökonomie. Der Gebrauchswert der Arbeitskraft ist die Quelle der Wertschöpfung.

In einer historischen Perspektive ging Marx schließlich davon aus, dass die eingesetzte Abeit und die daraus resultierenden Gewinne im Verhältnis zum Kapital abnehmen, dadurch sinkt schließlich auch die Profitrate. Obwohl die Profite – dank der neoliberalen Politik –in den letzten Jahren global gestiegen sind, gibt es empirisch Anzeichen dafür, dass der lange Fall der Profitrate zu einer fatalen, selbstzerstörerischen Tendenz in den westlichen Kapitalismen geführt hat. Denn um die eigene Profite wieder in die Höhe zu treiben, haben Unternehmen vor allem die Investitionstätigkeit verringert und gleichzeitig die Arbeitskosten gesenkt. Keine Geringeren als der ehemalige Weltbankpräsident und US-Finanzminister Larry Summers und der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman wählten zur Charakterisierung der gegenwärtigen Phase der kapitalistischen Entwicklung jüngst den drastischen Begriff der „säkularen Stagnation“. Sie fürchten, dass den westlichen Industriestaaten eine langanhaltende, eben „säkulare“ Periode niedrigen Wirtschaftswachstums bevorsteht. Und anders als in der Phase des Fordismus sind beileibe nicht alle (oder zumindest nicht die meisten) Arbeiter an den Wachstumsgewinnen der Gesellschaft beteiligt.

Die kapitalistische Produktionsweise steht für Marx in einer Einheit mit der bürgerlichen Gesellschaft: Sie verkoppelt freie Lohnarbeit, rechtliche Gleichstellung, Vertragsfreiheit und Konkurrenz. Der freie Arbeiter ist in der bürgerlichen Gesellschaft, wie Marx es formulierte, doppelt frei: Er sei erstens frei „von den alten Klientel- oder Hörigkeitsverhältnissen und Dienstverhältnissen und zweitens frei von allem Hab und Gut und jeder objektiven, sachlichen Daseinsform, frei von allem Eigentum“.  Das macht die Proletarier aus: Sie besitzen weder Kapital noch Produktionsmittel – das ist für Marx ihr charakteristisches Merkmal. Deshalb bleibt ihnen nichts anderes übrig, als ihre Arbeitskraft zu veräußern. Im Kapitalismus ist auch die Arbeitskraft eine Ware, die auf dem Arbeitsmarkt ver- und gekauft wird.

Quelle   :    Blätter        >>>>>      weiterlesen

——————————————————————————————

Grafikquellen   :

Oben  —      Karikatur von Gerhard Mester Weiter so

  • CC-BY-SA 4.0
  • File:20161221 xl 1515–Gehard-Mester Weiter so.jpg

——————————————

Unten   —      Karl Marx, The Prophet

Source https://archive.org/details/KarlMarxTheProphet
Author
Images from Carlos Latuff are copyright free. See here for details.
Green copyright.svg
The copyright holder of this work allows anyone to use it for any purpose including unrestricted redistribution, commercial use, and modification.

Kommentar schreiben

XHTML: Sie können diese Tags benutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>