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Hunger als Kriegswaffe

Erstellt von Redaktion am Samstag 19. August 2017

Eine Lücke im Völkerrecht

Datei:Malnourished children, weakened by hunger.jpg

von Alex de Waal

Das englische Verb „to ­starve“ bedeutet nicht „verhungern“, sondern „aushungern“, ist also etwas, was Menschen einander antun. Wie Folter oder Mord. Massenhaftes, passives Verhungern, etwa als Folge von Dürre, ist höchst selten geworden; die heutigen Hungerkatastrophen gehen durchweg auf politische Entscheidungen zurück.

In den letzten 50 Jahren sind Hungersnöte seltener und weniger tödlich geworden. Noch letztes Jahr war ich mir fast sicher, dass es künftig keine mehr geben werde. Aber jetzt haben wir das Jahr 2017, in dem wir vier Hunger­krisen gleichzeitig erleben. Am 11. März warnte der UN-Nothilfe-Koordinator Stephen O’Brien nach einer Reise durch Jemen, Südsudan, Somalia und Nigeria, die Welt steuere auf „die größte humanitäre Krise seit Gründung der Vereinten Nationen“ zu. O’Brien sieht einen „kritischen Punkt“ erreicht, weil der 70 Jahre währende Trend einer abnehmenden Zahl von Hungertoten zu Ende ist und sich sogar wieder umgekehrt hat.

Über die Ursachen der vier – bereits eingetretenen oder drohenden – Hungersnöte, die er auf seiner Reise ausgemacht hat, macht sich O’Brien keine Illusionen. Der Hauptfaktor ist in allen vier Fällen ein Krieg, der Farmen, Viehherden und Märkte zerstört hat, sowie insbesondere die Entscheidung des Militärs, humanitäre Hilfslieferungen zu blockieren. In Nigeria haben Dörfer, die in den Krieg zwischen Boko Haram und der Armee geraten sind, ihre Besitztümer, Einkommensquellen und Nahrungsmittel verloren. In den Gegenden, aus denen das nigerianische Militär im letzten Jahr Boko Haram vertrieben hat, sind die Menschen zu Tausenden verhungert.

Während sich der Kampf gegen die Terrormiliz hinzieht, wachsen die Sorgen der Experten, die das Informationssystem Integrated Food Security Phase Classification (IPC) mit Daten versorgen. Sie befürchten, dass sie in der „Hungersaison 2017“ (die ungefähr von Juni bis Oktober dauert) wieder ganze Volksgruppen auf der IPC-Skala von Stufe 4 („humanitärer Notstand“) auf Stufe 5 („Hungersnot“) heraufsetzen müssen. Letztes Jahr haben die UNO und die Hilfsorganisationen das Ausmaß der Krise in Nigeria nicht wahrgenommen. Dieses Jahr kommen die Warnungen vielleicht noch rechtzeitig.

Im Südsudan kämpfen Regierungssoldaten und Rebellen nicht so sehr gegeneinander als vielmehr gegen die Zivilbevölkerung. Aus dieser Krisenregion meldeten Hilfsorganisationen im Sommer 2016 so schwere Versorgungslücken und so hohe Zahlen von Hungertoten, dass die UN-Kriterien für die Ausrufung einer Hungersnot erfüllt waren. Vor diesem Schritt scheuten die UN aber zurück, weil sie die paranoide Regierung des Südsudan nicht vor den Kopf stoßen wollten, die interna­tio­nale Hilfsagenturen verfolgt (mehrere von ihren Mitarbeitern wurden bereits ausgeraubt, vergewaltigt und ermordet). Im Februar dieses Jahres erklärten Helfer, die noch die Hungerepidemien der 1980er Jahre im Süden des Sudan erlebt haben, die Lage für mindestens so schlimm wie damals. Kurz darauf erklärten die UN Teile des Südsudan offiziell zu Hungerregionen.

Doch die größte Katastrophe droht derzeit im Jemen. Hier erwecken die Fotos von hungernden Menschen in ausgetrockneten Landschaften einen falschen Eindruck, denn mit dem Wetter hat diese Katastrophe nichts zu tun. In Jemen droht mehr als 7 Millionen Menschen der Hungertod. Es ist dort weit wahrscheinlicher, an Hunger oder Cholera zu sterben, als durch Militäraktionen.

Die von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten angeführte Militärintervention hat die Wirtschaft des Jemen stranguliert. Vor dem Krieg hat das Land 80 Prozent seiner Nahrungsmittel importiert, vor allem über den Hafen al-Hudaida am Roten Meer. Der UN-Sicherheitsrat hat auf Betreiben der Saudis und mit Unterstützung der USA und Großbritanniens ein Embargo gegen Jemen verhängt, dessen Kontrollen den – vom Embargo ausgenommenen – Nahrungs­mittel­import verzögern.

Mörderische Blockade des Jemen

Seit saudische Flugzeuge die Container­docks von al-Hudaida bombardiert haben, müssen zudem alle Schiffe auf die alte umständliche Weise entladen werden. Straßen, Brücken und Markthallen wurden beschädigt oder zerstört, der Handel ist fast völlig zum Erliegen gekommen. Umgekehrt blockieren die Huthi-Rebellen die Zufahrtsstraßen zu der im Hochland gelegenen Stadt Taiz. Nahrungsmittel sind hier die stärkste Kriegswaffe – und Unterernährung die häufigste Todesursache.

Während die UN und die humanitären Organisationen die Kriegsverbrechen im Südsudan eindeutig verurteilen, sind sie in ihren Stellungnahmen zu Jemen deutlich zurückhaltender, als wollten sie Entscheidungen des Sicherheitsrats nicht offen kritisieren. Obwohl die Hungersnot sich weiter verschlimmert, verschärfen die britische und die US-Kriegsmarine ihre Blockade, und im UN-Sicherheitsrat wird lediglich darüber diskutiert, wie sich das Embargo noch effektiver gestalten ließe. Damit machen sich alle mitschuldig an der Hungersnot.

Einzig im Süden Somalias ist die bedrohliche Lage zum Teil auf die Dürre zurückzuführen. Aber auch hier ist für die Hungersnot vor allem der Krieg zwischen einer Koalition nordostafrikanischer Armeen und der Al-­Shabaab-Miliz verantwortlich. Bis 2016 war Somalia das einzige Land, das die UN seit der Jahrtausendwende offiziell zur Hungerregion erklärt haben. Das geschah im Juli 2011. Experten zufolge war es eine vermeidbare Katastrophe – als Resultat eines „kollektiven Versagens“, bei dem auch die Unfähigkeit der somalischen Behörden und Korruption eine große Rolle spielen.1

Ein weiterer Faktor war die Einschränkung humanitärer Hilfsaktionen durch die Vereinigten Staaten, die auf den USA Patriot Act von 2001 zurückgehen. Das Gesetz kriminalisierte die Unterstützung von Gruppen, die auf der US-Terrorliste stehen. Das bedeutete, dass jede in einer Hungerregion engagierte Hilfsorganisation mit einer Klage vor einem US-Gericht rechnen musste. Wenn zum Beispiel al-Shabaab einen Lkw des Roten Kreuzes entführt, wäre das IRK dafür verantwortlich. Schon die Androhung strafrechtlicher Verfolgung stellt eine Rufschädigung dar, die keine Organisation riskieren wollte.

Im US-Außenministerium und bei USAID suchte man Wege, um diese Vorschrift im Fall Somalia zu umgehen; das Justizministerium blieb jedoch hart. Erst nachdem die UN Somalia offiziell zur Hungerregion erklärten, begann ein Umdenken, und erst nach weiteren neun Monaten legte das Justizministerium einen Lösungsvorschlag vor. In der Zwischenzeit schickten die USA keine Nahrungsmittel nach Somalia. Etwa 260 000 Menschen starben, vor allem Kinder. Die meisten von ihnen hätten überlebt, wenn die Obama-Regierung begriffen hätte, dass ein Festhalten am Patriot Act zu einer Hungerkatastrophe führen musste.2

Noch fatalere Folgen hatten wahrscheinlich die Maßnahmen zur Kontrolle der Geldströme. Das Nationaleinkommen Somalias besteht zu rund 30 Prozent aus Rücküberweisungen der Diaspora. Diese Gelder werden mangels eines normalen Banksystems über Firmen transferiert, die nach dem Hawala-Prinzip arbeiten.3 Die Besitzer dieser Firmen sind an Profit und nicht an Ideologie interessiert. Aber seit 2001 werden sie von den Agenturen, die den Antiterrorkrieg führen, als potenzielle Terrorkomplizen angesehen.

Im November 2011 wurde die größte dieser Firmen namens al-Barakaat von den US-Behörden – zu Unrecht – beschuldigt, Geldtransfers für Terroristen abgewickelt zu haben, woraufhin ihr Überweisungsgeschäft verboten wurde. Nach weiteren willkürlichen Beschränkungen waren die US-Banken nicht mehr bereit, mit diesen Firmen zu kooperieren.

Die diesjährige Hungersnot in Somalia ist auch durch Dürren und Miss­ernten verursacht. Im benachbarten Äthiopien hingegen führte die viel längere Dürreperiode von 2016 nicht zu einer Hungerkatastrophe, weil die Regierung sehr schnell reagierte. Auf dem Höhepunkt der Krise wurden fast 18 Millionen Menschen von der Regierung und der UN-Nahrungsmittelhilfe versorgt; das sind mehr Menschen als die von Hunger bedrohte Bevölkerung aller vier aktuellen Krisenländer. Auch hier zeigte sich: Menschen müssen nicht verhungern, nur weil der Regen ausbleibt.

File:Escasez en Venezuela, Mercal.JPG

Die World Peace Foundation (WPF) hat dokumentarisch alle 61 Fälle erfasst, in denen seit 1870 mehr als 100 000 Menschen einer Hungersnot oder einer gezielten Strategie des Aushungerns zum Opfer fielen. Die globale Gesamtzahl der Toten liegt bei mindestens 105 Millionen, davon entfielen zwei Drittel auf Asien, etwa 20 Prozent auf Europa und die UdSSR und weniger als 10 Prozent auf Afrika.

Die Hungerkatastrophen mit den höchsten Opferzahlen gingen auf politische Entscheidungen zurück. Dazu zählen die Hungersnöte zwischen 1880 und 1900 in den USA, die Hungersnöte während des Ersten Weltkriegs im Nahen Osten (darunter der gewollte Hungertod von 1 Million Armeniern), die Hungersnot im russischen Bürgerkrieg (1918–1922), Stalins „Holodomor“ (Tö­tung durch Hunger) in der Ukraine (1932–1934), der „Hungerplan“ des NS-Regimes in der Sowjetunion, die Hungersnöte des Chinesischen Bürgerkriegs (1927–1949), die von Japan angeordneten Hungersnöte im Zweiten Weltkrieg. Und natürlich die größte Hungerkatastrophe überhaupt, die im Zuge von Maos „Großem Sprung nach vorn“ (1958–1962) mindestens 25 Mil­lio­nen Todesopfer forderte.

Vernichtungsplan aus dem NS-Ernährungsministerium

Quelle   :   Le Monde diplomatique >>>>> weiterlesen

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Grafikquellen    :

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Quelle Flickr: Malnourished children, weakened by hunger
Urheber DFID – UK Department for International Development
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Unten    Venezuela   — Anstehen für Essen

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