Hochzeit und Beerdigung
Erstellt von DL-Redaktion am Mittwoch 19. Februar 2020
Cansu Özdemir tritt für die Linkspartei als Spitzenkandidatin zur Hamburg-Wahl an.
Von Marthe Ruddat
Sie will Menschen mobilisieren, die bisher nicht wählen gehen. Mitregieren will sie aber nicht.
Die Autobahn brummt ganz schön laut, wenn es ansonsten still ist in Kirchdorf-Süd im Hamburger Süden. Es sind kaum Menschen unterwegs in der Straße vor dem Hochhauskomplex. 13 Stockwerke, grau-braune Fassade. An einem Spielgerät auf dem verwaisten Spielplatz vor der Hausnummer 8 hängt ein Plakat von Cansu Özdemir. „Konsequent sozial!“ steht darauf.
Özdemir ist spät dran an diesem Freitagnachmittag. Als sie vor dem Haus auftaucht, hat sie das Handy am Ohr, telefoniert mit einem Unterstützer, der sie im Wahlkampf begleitet und die heutige Tour organisiert hat. Wenn andere Politiker*innen beim Haustürwahlkampf von Tür zu Tür tingeln, geht Özdemir lieber von Wohnzimmer zu Wohnzimmer. Sie besucht Mitglieder der kurdischen Community in Hamburg. Wohnzimmerwahlkampf nennt sie das. „Das hier ist mein Wahlkampf“, sagt sie. „Man führt einfach ganz andere Gespräche.“ Die klassischen Infostände macht sie auch, sie seien aber nicht so ihr Ding.
Özdemir ist die Spitzenkandidatin der Linkspartei bei der Wahl zur neuen Hamburgischen Bürgerschaft am kommenden Sonntag. In ihren etwa elf Jahren in der Partei hat sie es weit gebracht. Mit 22 Jahren wurde sie 2011 Bürgerschaftsabgeordnete, vier Jahre später eine der beiden Fraktionsvorsitzenden. Jetzt ist sie auch Spitzenkandidatin.
Mehrere Familien sind in einer Wohnung in dem Hochhaus in Kirchdorf-Süd zusammengekommen, um mit Özdemir zu sprechen. Schuhe aus. Özdemir hat in weiser Voraussicht die mit Reißverschluss angezogen. Es gibt Tee, viel Tee, und Süßes. Özdemir begrüßt alle persönlich. Die Männer und Frauen berichten ihr, was sie schon alles getan haben, um sie im Wahlkampf zu unterstützen, übersetzt sie. Die Gespräche werden meist auf Kurdisch oder Türkisch geführt. Wahlkampf sei in der Community eine kollektive Sache, fast wie ein Wettbewerb sei das Engagement für sie, sagt Özdemir. Sie findet das „süß und rührend“.
Die Atmosphäre in den Wohnzimmern ist entspannt, es wird viel gelacht. Politik ist trotzdem das zentrale Thema. Es gehe um die Wahl des Ministerpräsidenten in Thüringen, die Idee, in Kirchdorf-Süd einen kurdisch-deutschen Kindergarten oder ein Frauenhaus aufzubauen, sagt Özdemir. „In der Türkei ist Wählen so etwas wie Ehrensache.“ Die Wahlbeteiligung ist stets hoch. Ein großer Teil ihrer Wahlkampfarbeit bestehe deshalb auch darin, den Menschen zu erklären, wie und wann sie wählen können.
„Was sind denn deine Ziele?“, will eine Frau von Özdemir wissen. Özdemir weiß, welche Themen die Menschen, bei denen sie sitzt, bewegen: Mietendeckel, Mindestlohn, keine Waffenexporte in die Türkei. Routiniert erzählt sie, auf welche Themen die Linken setzen. Özdemir wird im Wahlkampf immer wieder mit den persönlichen Problemen der Menschen konfrontiert. Wie schwer es ist, eine bezahlbare Wohnung zu finden, wenn man keinen deutschen Nachnamen hat, zum Beispiel. Eine andere Frau möchte wissen, welche Möglichkeiten sie hat, Lehrerin zu werden, nachdem sie durch eine wichtige Prüfung gefallen ist. „Die Prüfung musst du halt machen, so wie ich Statistik machen muss“, sagt Özdemir.
Die 31-Jährige ist offiziell noch Studentin, hat Politikwissenschaften in Hamburg studiert. Für den Bachelorabschluss fehlt ihr nur noch eine Statistikprüfung. Die muss sie nachholen, ist letztes Mal durchgefallen. „Die Leute erwarten oft, dass ich sofort eine Lösung bieten kann, aber ich muss meistens auch erst mal recherchieren“, sagt sie auf dem Weg in die nächste Wohnung.
Özdemir hat nie woanders gelebt als in Hamburg. Sie ist hier geboren, bei ihren kurdischen Eltern am Osdorfer Born aufgewachsen. Die Plattenbausiedlung wurde in den Sechzigern gebaut, galt als besonders modern. Heute gilt der Stadtteil als sozialer Brennpunkt. Die Bewohner*innen hingegen betonen den besonderen Zusammenhalt der Siedlung. So auch Özdemir. Sie lebt immer noch dort.
In ihrer Fraktion ist Özdemir Sprecherin für Soziales, Inklusion, Frauen und Queer. Ihre Wahlkampftermine führen sie unter anderem zum Bündnis für Wohnen und zu einem Verein, der sich für drogenabhängige Frauen einsetzt. Viele Termine hat sie aber auch in ihrer eigenen, der kurdischen Community. Sie versuche auch, andere migrantische Gruppen zu erreichen, von denen sie wisse, dass viele gar nicht wählen gehen würden, sagt sie. „Mein Ziel ist, diese Menschen dazu zu bewegen, wählen zu gehen, und ihnen deutlich zu machen, dass ihre Stimme etwas bewirken kann.“
Eine Gelegenheit in den vergangenen Wochen waren kurdische Hochzeiten. „In Kurdistan ist es üblich und den Leuten auch wichtig, dass ihre Abgeordneten und Bürgermeister zu den wichtigen Ereignissen im Leben kommen“, sagt Özdemir auf einer Hochzeit in einem Harburger Festsaal Anfang Februar. Und das seien nun mal Hochzeiten und Beerdigungen. Praktischerweise erreicht man hier gleich 500 bis 1.000 Menschen. Kurdische Hochzeiten werden fast immer sehr groß gefeiert. Wenn Özdemir ohne Einladung auftauchen würde, das würde niemanden wundern, es wäre eine Selbstverständlichkeit. „Aber ich gehe nur, wenn ich eingeladen bin“, sagt sie. Und das ist sie oft, an diesem Abend bekommt sie gleich die nächste Einladung.
Quelle : TAZ >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Cansu Özdemir (Die Linke), member of the Hamburg Parliament
Unten — Elbe, Landungsbrücken und Hauptkirche Sankt Michaelis in Hamburg
- CC BY-SA 3.0 de
- File:Landungsbrücken Hamburg.jpg
- Erstellt: 5. März 2013