Erstellt von DL-Redaktion am Montag 3. Mai 2021
Das Zeitalter der #Viralpolitik
Diese Woche gab es zwei Nachrichten über Bewegungen, die sich um Hashtags herum versammeln: #Querdenken wird vom Verfassungsschutz beobachtet, #FridaysForFuture siegt vor dem Verfassungsgericht. Es gibt da einen Zusammenhang.
»Die sozialen Bewegungen, die sich vernetzen, rütteln am System.«
Wau Holland, Gründer des Chaos Computer Club, irgendwann in den frühen Achtzigerjahren
Als CCC-Gründer Wau Holland den obigen Satz formulierte, klang das für viele noch wie Science-Fiction oder Humbug. Das war bei Holland öfter so, aber so geht es ja vielen Visionären.
Holland, der schon 2001 mit nur 50 Jahren starb, hat die Erfüllung seiner Prophezeiung nicht mehr miterlebt. In den Achtzigern, als er sie aussprach, sahen viele Angehörige sozialer Bewegungen, vor allem in Deutschland, Computer und Vernetzung nicht hoffnungsvoll als Befreiungs- und Organisationsinstrument –
sondern als Werkzeuge technokratischer Unterdrückung. Die Grünen wollten keine PCs in ihren Abgeordnetenbüros, in linksradikalen Kreisen wurden Tipps ausgetauscht, wie man Computer am besten kaputtmacht.
Im 21. Jahrhundert ist das Internet der mächtigste Treiber gesellschaftlichen Wandels, den die Menschheit je gesehen hat. Die neuen sozialen Bewegungen sind ohne sozial-mediale Vernetzung nicht denkbar. Das gilt im Guten wie im Schlechten.
Soziale und asoziale Bewegungen
Die großen, wuchtigen, öffentlich wirkmächtigen neuen Bewegungen tragen sämtlich Hashtags als Namen. Das soziale Netz erlaubt die Herstellung von »Ad-hoc-Öffentlichkeiten«, wie der Kommunikationswissenschaftler Axel Bruns das schon 2011 genannt hat. #MeToo, #MeTwo, #BlackLivesMatter und eben #FridaysForFuture haben es geschafft, aus diesen Ad-hoc-Öffentlichkeiten überdauernde Phänomene, dezentrale, dauerhafte Organisationsformen zu machen.
Aber auch die sogenannten Querdenker, die nun vom Verfassungsschutz beobachtet werden, wären ohne die Möglichkeit, sich im Internet gegenseitig mit Desinformation zu versorgen, sich abzusprechen, zu koordinieren, mit Memes Identitätsstiftung zu betreiben, niemals in so kurzer Zeit entstanden.
#Viralpolitik
Eine »soziale Bewegung« in Hollands Sinn ist das sicher nicht, eher eine asoziale. Unterwandert von Rechtsextremen, die das mit der Macht der Vernetzung mindestens ebenso gut verstanden haben wie die Linken. Aber eben doch ein Beispiel für dieses neue Phänomen: Die durch rapide, dezentrale Vernetzung entstehenden neuen Interessengruppen, deren erstes Ziel es immer ist, Öffentlichkeit herzustellen (über das Hashtag #allesdichtmachen breiten wir an dieser Stelle den wohlverdienten Mantel des Schweigens).
Wir leben jetzt im Zeitalter der Viralpolitik.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur deutschen Klimagesetzgebung, das am Donnerstag veröffentlicht wurde, ist ein Beispiel für das gleiche Phänomen: Geklagt haben unter anderem deutsche Vertreterinnen und Vertreter von Fridays for Future.

Diese tatsächlich globale soziale Bewegung mit dem Ziel, die Menschheit vor dem Klimakollaps zu bewahren, ist binnen weniger als drei Jahren zu ihrer aktuellen Größe und Relevanz herangewachsen. Im September 2019, gut ein Jahr nachdem sich Greta Thunberg zum ersten Mal mit einem Pappschild mit der Aufschrift »Skolstrejk för klimatet« an eine schwedische Hauswand gesetzt hatte, demonstrierten erstmals weltweit mehrere Millionen Menschen für eine Klimapolitik, die diesen Namen verdient.
Die Bewegung war innerhalb eines Jahres praktisch aus dem Nichts entstanden, um das Hashtag #FridaysForFuture herum. Finanzminister Olaf Scholz (SPD) sagte damals, die Bewegung habe den Regierenden »in Erinnerung gerufen, dass wir Schritte jetzt gehen müssen, die wir in den vergangenen Jahren nicht gegangen sind«.
Vertagerei für verfassungswidrig erklärt
Die Schritte, die man dann ging, reichten den Protestierenden aber nicht – und, wie sich nun herausstellt, auch dem Verfassungsgericht nicht. Das Gericht bezog sich in seiner Begründung explizit auf die Tatsache, dass die mangelhaften klimapolitischen Festlegungen der Gegenwart die Freiheit derer einschränken werden, die in der Zukunft in diesem Land leben werden. Anders gesagt: Die Verfassungsrichter haben die ständige Vertagerei, mit der diese Regierung und ihre Vorgänger das Thema Klimakrise behandeln, für verfassungswidrig erklärt. Genau das also, was die Fridays-for-Future-Demonstranten angemahnt hatten.
Jetzt schieben Scholz und sein Ministerkollege Peter Altmaier (CDU) sich gegenseitig den Schwarzen Peter zu – auf Twitter, wenn auch ohne Hashtags.
Quelle : Der Spiegel >>>>> weiterlesen
*********************************************************
Grafikquellen :
Oben — Spontane Feierkundgebung von FridaysForFuture im Invalidenpark in Berlin nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegen das Klimaschutzgesetz am 29. April 2021.
Erstellt am Montag 3. Mai 2021 um 2:40 und abgelegt unter APO, Deutschland, Energiepolitik, Positionen.
Kommentare zu diesen Eintrag im RSS 2.0 Feed.
Sie können zum Ende springen und ein Kommentar hinterlassen. Pingen ist im Augenblick nicht erlaubt.