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Halbwertszeit media Themen

Erstellt von DL-Redaktion am Donnerstag 5. Mai 2022

Wir haben ein Welpen-Problem

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Eine Kolumne von Sascha Lobo

Die Gräuel des Kriegs in der Ukraine verdrängen Probleme, die mehr Interesse verdient hätten, als sie bekommen. Wir müssen lernen, mit unserer Aufmerksamkeit nachhaltiger umzugehen.

Es gibt dieses durch und durch wunderbare Video  eines Welpen auf einer Terrasse. Er spielt neben seiner Mutter tollpatschig mit einem Ball, herzallerliebst. Dann macht er ein Schrittchen zurück und sieht einen Zweig, mit dem er sich natürlich sofort beschäftigen muss, supersüß. Dann juckt es ihn am Bauch, er kratzt sich, bezaubernd. Aber er ist noch so taumelig, dass er dabei umfällt, turboniedlich. Wodurch sowohl Zweig als auch Ball in sein Blickfeld geraten. Er schaut hin und her, entscheidet sich für den Ball, steht auf, läuft darauf zu, verliert Zehntelsekunden später das Interesse, awwwwh, sieht dafür aber die filmende Person und stürmt auf sie zu. Video zu Ende, man muss es sich sofort noch mal ansehen und dann noch mal.

Wir, die digitalen Gesellschaften in den liberalen Demokratien, haben ein Problem, ein Metaproblem, das mit fast allen anderen Problemen und vor allem mit deren Lösungen zu tun hat. Was unsere gesellschaftliche Aufmerksamkeit angeht, sind wir dieser Welpe.

Wir sind erstens nicht in der Lage, uns mit mehr als einem Großthema zur Zeit zu beschäftigen. Wir sind zweitens nicht in der Lage, einem Großthema über längere Zeit zu folgen, wenn es nicht ständig neue, möglichst sensationelle Entwicklungen gibt. Wir sind drittens nicht in der Lage, das Dringende vom Wichtigen zu unterscheiden.

Ich nenne es das Welpen-Problem: In der digitalen Mediengesellschaft haben wir bisher kein Prinzip der nachhaltigen Aufmerksamkeit entwickeln können.

Das Welpen-Problem hat eine Reihe schwieriger Folgen. Die Pandemie zum Beispiel war in dem Moment vorbei, als der russische Überfall auf die Ukraine begann, eben weil in unseren Köpfen nur ein Großthema Platz hat. Wir sind nur eingeschränkt in der Lage, die enorm wichtige Korrektivfunktion in Form von öffentlichem Druck aufrechtzuerhalten. Noch bevor sich dieser Druck wirksam auf die Verantwortlichen entfalten kann, wird die nächste Sau durchs Dorf getrieben.

Der beste Trick, um sich vor der Übernahme politischer Verantwortung, wie etwa einem Rücktritt, zu drücken, ist deshalb simples Abwarten, bis die Empörungsenergie verpufft und die Empörten weitergezogen sind. Aussitzen war schon zu Kohls Zeiten möglich, doch heute dauert es nicht mehr Monate, sondern oft nur Stunden. Mediale Themen haben eine extrem kurze Halbwertszeit, ihre Dringlichkeit verblasst zu schnell.

Gewöhnung an das nicht Hinnehmbare

Eine andere, schwierige Folge des Welpen-Problems ist, dass wir sogar von Monstrositäten verstörend schnell gelangweilt scheinen. Mitte April twitterte die aktuelle deutsche Instanz für Kriegserklärung, Carlo Masala, Twitterer, Podcaster und nebenbei Professor für internationale Politik an der Bundeswehruniversität: »Die deutsche Gesellschaft wird langsam kriegsmüde . Was Gefährlicheres kann der Ukraine nicht passieren«.

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Diese Kriegsmüdigkeit ist eine Form von Gewöhnung an das eigentlich nicht Hinnehmbare. Man kann das als Schutzfunktion betrachten, weil niemand es unbeschadet schafft, dauerhaft alarmiert zu sein. Irgendwann aber kann zur Gewöhnung eine Schuldabwehr hinzukommen. Weil wir uns nicht zugestehen wollen, uns an das Monströse zu gewöhnen, suchen und finden wir Argumente, warum das Monströse doch nicht so monströs oder die Abkehr aus anderen Gründen richtig ist. Wir wären ja gern mit voller Kraft auf der Seite der Ukraine, aber der Botschafter ist so frech.

Die vielleicht bitterste Folge des Welpen-Problems aber sind die vielen Katastrophen, Radikalitäten, Unfassbarkeiten, die deshalb gar nicht erst zum Thema werden. Sie bleiben eine Randnotiz, obwohl sie Großthemen werden müssten.

Ein Tropfen Restaufmerksamkeit

Gerade erst hätte sich in Deutschland ein Fall wie der von George Floyd entwickeln können, dessen Ermordung weltweit für Aufruhr sorgte und zur Bildung der Bewegung Black Lives Matter führte. In Mannheim  ist ein Mann mit türkischen Wurzeln nach der gewalttätigen Festnahme durch die Polizei gestorben. Es gibt Videoaufnahmen davon, die schwer zu ertragen sind. Das Thema ist bisher trotzdem nicht groß geworden.

Neben Rassismus kann einer der Gründe dafür sein, dass bisher nicht alle Details klar sind – aber das ist ohnehin selten der Fall. Tatsächlich aber halte ich für den ausschlaggebenden Grund, dass derzeit ein Großteil der Aufmerksamkeit vom Thema Ukraine absorbiert wird, samt der begleitenden Debatten, der Offenen Briefe, grotesken russischen Nazivergleiche und den weltweiten Diskussionen um die Konsequenzen des Kriegs. Die wenigen verbleibenden Tropfen Restaufmerksamkeit werden durch die spätpandemischen Wirren aufgesogen. Ansonsten reicht es nur für thematische Stichflämmchen und Strohfeuerchen.

Eine Vielzahl von Themen würde viel mehr Aufmerksamkeit verdienen. Die fundamentalistische, religiöse Rechte steht in den USA kurz davor, das Recht auf Abtreibung radikal einzuschränken.

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So viele Uniformierte Eber auf eine Sau ?

Die einflussreichste Online-Publikation der Welt, das inzwischen zum Axel-Springer-Verlag gehörende Politico, hat dazu ein höchst spektakuläres Leak veröffentlicht : den Entwurf eines Urteils des Supreme Court, des höchsten, politisch extrem mächtigen US-Gerichts. Die von Trump herbeigeschummelte rechte Mehrheit in diesem Gremium drängt nicht nur auf die Abschaffung des generellen Rechts auf Abtreibung, sondern legt auch den Grundstein für eine Zukunft der Sorte »The Handmaid’s Tale« light: Bis zu 30 Bundesstaaten könnten die Ehe für Homosexuelle verbieten, bis zu zwölf sogar homosexuellen Geschlechtsverkehr.

Abtreibungsrecht in den USA

Quelle         :           Spiegel-online        >>>>>         weiterlesen

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Grafikquelle :

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Litter of ten puppies, eight males and two females.

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