Gestrandet in Istanbul
Erstellt von DL-Redaktion am Samstag 16. Juni 2018
Europa zahlt Milliarden an die Türkei, ….
Von Sabine Seifert
….. damit diese syrische Flüchtlinge versorgt. Kommt das Geld bei den Menschen an? Ja, ein bisschen, sagen die syrischen Mütter. Aber viele Kinder gehen arbeiten statt Hausaufgaben zu machen
Fatma Abbas, sie trägt einen langen schwarzen Mantel und ein schwarzweiß gemustertes Kopftuch, das Gesicht ist blass und ungeschminkt, bildet eine Sitzreihe mit ihren Kindern. Das sind: Mustafa, 12, Hana, 9, und Rima, 5; die dreijährige Tiçen spielt noch unten im Haus. Die Mädchen tragen Zöpfe und bunte Schleifen, der Junge hat dafür abstehende Ohren. 2014 floh die Familie aus Aleppo in die Türkei. Fatma Abbas, die in Wahrheit einen anderen Nachnamen trägt, lächelt schüchtern und etwas gequält, da sie sich bereit erklärt hat, Journalistenfragen zu beantworten. Ein Zeichen guten Willens für gute Taten, die ihr im Gemeindezentrum des türkischen Halbmonds in Sultanbeyli, einem Vorort Istanbuls, zuteil werden. Arztbesuche, Impfungen, sozialpsychologischer Dienst, Dolmetscher. Auch jetzt ist einer zur Stelle.
Der zwölfjährige Mustafa, links neben seiner Mutter sitzend, hatte sich nach zwei Jahren plötzlich geweigert, zur Schule zu gehen. Er besuchte eine türkische Schule. „Ich habe ihn nicht gedrängt“, sagt die Mutter, „ich wollte keinen Druck machen. Er hat nichts gegessen und nur geweint, wenn ich ihn nach der Schule gefragt habe.“ Mustafa schweigt, grinst. Nach einiger Zeit hat ein Sozialarbeiter des Gemeindezentrums interveniert, der Junge geht jetzt wieder zum Unterricht. Er habe sich wohl gemobbt gefühlt, sein Türkisch sei anfangs noch schlecht gewesen, meint die Mutter. Heute übersetzt Mustafa oft für sie, denn anders als für Kinder gibt es für die syrischen Erwachsenen in der Türkei keine Sprachkurse.
Zuschüsse in eher symbolischer Höhe für den Schulbesuch
Fatma Abbas und ihre Familie profitieren von einem Programm, das vom türkischen Familien- und Sozialministerium verwaltet und überwiegend aus EU-Geldern finanziert wird. Es nennt sich Conditional Cash Transfer for Education, übersetzt etwa „bedingter Bildungszuschuss“ und abgekürzt CCTE. Dadurch erhalten Familien zur Unterstützung für jedes zur Schule gehende Kind eine eher symbolische Summe von 35 bzw. 40 Türkischen Lira (etwa 6 bzw. 7 Euro). In der Oberschule gibt es 15 bzw. 20 Lira mehr, für Mädchen prinzipiell die höhere Summe. „Das Geld hilft uns“, sagt Fatma Abbas diplomatisch. Sie erhält die Summe zusätzlich zu den 120 Lira (22 Euro), die sie aus dem Hilfsprogramm der EU für syrische Flüchtlinge in der Türkei bekommt.
3,9 Millionen Flüchtlinge leben nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks inzwischen in der Türkei, das sind mehr als in jedem anderen Land der Welt; 3,5 Millionen von ihnen sind Menschen aus Syrien – allein in Istanbul sollen es um die 700.000 sein. Weniger als 10 Prozent von ihnen leben in Lagern, die Mehrheit zieht zu Verwandten und Bekannten, taucht in die Anonymität der Großstädte ein – und sie sind meist sich selbst überlassen.
Eine offizielle Arbeitserlaubnis besitzen nur die wenigsten, die bürokratischen Regularien sind kompliziert. Die meisten Menschen arbeiten deshalb in Bereichen, für die die Bezeichnung informeller Sektor zutrifft – so wie Fatma Abbas’ Ehemann, der „etwas in der Textilbranche macht“.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan betrachtet die syrischen Flüchtlinge als „Gäste“ – sie genießen „zeitweiligen“, aber keinen „internationalen Schutz“, sind daher zwar registriert, dürfen aber kein Asyl beantragen. Sie können bleiben – für einige Zeit.
Wie lange noch? Die Zeit macht die Wartenden wie die Helfenden mürbe, der Krieg in Syrien währt nun schon sieben Jahre. Wird er bald zu Ende sein, und können die Syrer in ihre Heimat zurückkehren? Soll die Türkei diese 3,5 Millionen Menschen sozial und ökonomisch integrieren?
„Ich habe keine Antwort darauf“, sagt der EU-Botschafter in der Türkei, Christian Berger. „Aber man spürt, dass diese Diskussion im Gang ist.“ Schätzungen gehen davon aus, dass etwa die Hälfte der syrischen Flüchtlinge in der Türkei bleiben wird – je länger der Krieg dauert, desto mehr werden es sein.
Berger, im dunkelblauen Anzug und hellblauen Hemd, mit rotem Schlips und etwas schütterem Haar, ist an diesem Tag mit einem Team des UN-Kinderhilfswerks Unicef aus der türkischen Hauptstadt Ankara in das Gemeindezentrum nach Sultanbeyli gekommen, schließlich unterstützt die EU – als Teil der EU-Türkei-Vereinbarung – mit insgesamt 6 Milliarden Euro die Flüchtlingshilfe in der Türkei, um die Flüchtlinge und Migranten von Europa fernzuhalten. Die Gelder werden projektbezogen vergeben: Die erste Tranche von 3 Milliarden Euro wurde vor zwei Jahren bewilligt, die Auszahlung der zweiten Tranche ist so gut wie beschlossen. Ein Gremium aus Vertretern von EU-Kommission und Mitgliedstaaten entscheidet über die zu fördernden Projekte und die Partnerorganisationen, die türkischen Vertreter haben darin nur eine beratende Funktion.
Im Kern wird sich nicht viel ändern: Knapp die Hälfte geht in die direkte humanitäre Hilfe, der Rest fließt in nichthumanitäre und infrastrukturelle Projekte: Schulen, Hospitäler, Management, Beratung, Schulung. In der letzten Woche erst sei der Bau von 200 neuen Schulen beschlossen worden, verkündet EU-Botschafter Berger zufrieden. Der Unicef-Vertreter in der Türkei, der Franzose Philippe Duamelle, spricht von einer „konstruktiven Arbeitsbeziehung“ mit der Türkei. Er glaubt, dass es das Land mit der Integration der syrischen Flüchtlinge ernst meine. Und er betont, dass Unicef auf die institutionellen Strukturen in der Türkei aufbauen könne.
Die Kinder sollen in türkischen Klassen integriert werden
Etwa eine Million der 3,5 Millionen Syrer im Land sind Kinder im Schulalter, schulpflichtig sind sie in der Türkei nicht. Bislang gab es für syrische Kinder syrische Schulen, die von Emigranten und Lehrern im Exil gegründet worden waren und in denen sie auf Arabisch unterrichtet wurden. Diese Schulen, Temporary Educational Centers (TEC) genannt, sind seit einem Jahr ein Auslaufmodell. Wer in die erste, fünfte oder neunte Klasse geht, muss nun auf Anweisung der Regierung eine türkische Schule besuchen. Ab dem nächsten Schuljahr kommen das zweite, fünfte und zehnte Schuljahr hinzu. Doch ab der sechsten Klasse steigt auch die Quote der Schulabbrecher dramatisch, gerade in Istanbul, viele Kinder werden von ihren Familien gedrängt zu arbeiten oder zu betteln. Weshalb Philippe Duamelle von Unicef fragt: „Was passiert mit den Kindern, die wir nicht erreichen?“
Und das sind viele. Kinder wie die von Kenana Khalaf al-Kurdi, die aus Deir al-Sor stammt, einer Stadt in Ostsyrien. „Aus einer bedeutenden Familie“, wie sie betont. Heute lebt die 32-Jährige in einer kleinen Zweizimmerwohnung im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu, die sie sich mit lila Sofaüberwürfen, Häkeldeckchen und Plastikblumen behaglich eingerichtet hat, die Wände, in zartem Rosa mit schwarzen Tupfern, hat sie selbst gestrichen. Ihr Vater, einst ein regimetreuer Mann und Arzt, sei unter Assad verhaftet worden und im Gefängnis gestorben, die Mutter nach sieben Monaten Haft wieder frei gekommen, sagt sie. Al-Kurdi landete selbst mehrfach im Gefängnis, entschloss sich zu fliehen. „Für meine Kinder“: Shirin, 7, und Keyser, 5.
Quelle : TAZ >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Grenzübergang Türkei-Griechenland bei Edirne.
Eigenes Werk – (Bild: Julian Nitzsche, CC-BY-SA 3.0)
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2. ) von Oben —
Source | Syrische Flüchtlingskinder im UNHCR Camp in Kurdistan |
Author | Enno Lenze from Berlin, Germany |
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Source | Syrische Flüchtlingskinder im UNHCR Camp in Kurdistan |
Author | Enno Lenze from Berlin, Germany |
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Unten — Tschetschenische Kinder im Flüchtlingslager von Istanbul