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Gesellschaftskritik

Erstellt von Redaktion am Sonntag 4. November 2018

Das Märchen von den teuren Alten

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Von Bernd Hontschik

Dem Gesundheitswesen unserer alternden Gesellschaft droht die Kostenexplosion. Klingt einleuchtend, ist aber falsch.

Unser Gesundheitswesen ist in Gefahr! Das hört man immer wieder. Die größte Gefahr gehe davon aus, dass die Gesundheit bald nicht mehr bezahlbar sein werde. Der medizinische Fortschritt mache die Medizin immer teurer, deswegen könne er nicht mehr allen zugutekommen. Man werde rationieren, prio­risieren und zuteilen müssen. Und dann ist da außerdem auch noch die immer weiter steigende Lebenserwartung, die immer größer werdende Zahl alter Menschen. Älter ist kränker ist teurer, so lautet die Schreckensformel. Aber stimmt das eigentlich alles?

Der Begriff der Kostenexplosion wurde 1974 von dem damaligen Gesundheitsminister von Rheinland-Pfalz, Heiner Geißler, in die politische Diskussion eingeführt. Mithilfe einer irreführenden Visualisierung von eigentlich recht geringen statistischen Schwankungen der Gesundheitskosten entstand der Eindruck einer steil ansteigenden Kostenkurve. Der Spiegel setzte daraufhin mit der Serie: „Krankheitskosten: Die Bombe tickt“ im Jahr 1975 das ganze Land unter Strom. Spätestens jetzt war klar: Es bestand dringender Handlungsbedarf!

Im Jahr 1998 erschien ein Taschenbuch mit dem Titel „Das Märchen von der Kostenexplosion“ und entwickelte sich schnell zu einem Bestseller. Bis dahin hatte der Begriff der Kostenexplosion aber schon enorme Bedeutung in sämtlichen Diskussionen über die Zukunft des Gesundheitswesens erlangt. Alle Welt war der Meinung, dass das Gesundheitswesen bald nicht mehr bezahlbar sein werde und längerfristig auf den totalen Zusammenbruch zusteuere.

Tatsächlich gibt es aber gar keine Kostenexplosion im Gesundheitswesen. Es hat auch noch nie eine gegeben. Die Ausgaben für das Gesundheitssystem sind in unserem Land seit Jahrzehnten konstant. Sie betragen 10 bis 12 Prozent des Bruttoinlandsprodukts mit minimalen Ausschlägen nach oben oder unten, und zwar nicht weil die Kosten explodieren, sondern wegen konjunktureller Schwankungen dieses Bruttoinlandsprodukts. In dem nun schon zwanzig Jahre alten Buch wurde damals die These von der Kostenexplosion definitiv widerlegt, ja sogar ad absurdum geführt. Doch damit war die These von der angeblichen Kostenexplosion im Bereich des Gesundheitswesens keineswegs erledigt. Bis heute wird in jeder Talkshow und bei jeder Erörterung über die Zukunft unseres Gesundheitswesens immer wieder auf diese angebliche Kostenexplosion verwiesen.

Als einzelner Beitragszahler spürte man ja nichts von der Konstanz der Gesundheitskosten, im Gegenteil. Man spürte stattdessen eine kontinuierliche Erhöhung der Krankenkassenbeiträge. Diese beruhte aber nicht auf einer Kostenexplosion, sondern auf einem dramatischen Einbruch der Einnahmen der gesetzlichen Krankenver­sicherung infolge der zunehmenden Arbeitslosenquote in den achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts, die teilweise bis zu 12 Prozent betrug. Die dadurch fehlenden Beitragseinnahmen konnten nur durch Beitragserhöhungen ausgeglichen werden. Und um diese ­Beitragserhöhungen möglichst gering ausfallen zu lassen, wurden Selbstbeteiligungen der Erkrankten eingeführt, obwohl diese dem Konzept einer Solidarversicherung diametral widersprachen.

Catrinas - Day of the Dead Ladies.jpg

Rezeptgebühr, Zuzahlungen, individuelle Zusatzbeiträge und selektive Beitragserhöhungen bei eingefrorenem Arbeitgeberanteil waren solche Veränderungen. Dadurch wurden die Krankheitskosten mehr und mehr, Schritt für Schritt von der Solidargemeinschaft auf den einzelnen Kranken abgewälzt. Diese Entwicklung wurde von ausnahmslos allen politischen Parteien betrieben und fand ihren Höhepunkt in der rot-grünen Agenda 2010. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder rief gleich zu Beginn seiner Regierungserklärung am 14. März 2003 den paradigmatischen Satz ins Plenum: „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.“

Zeitgleich wurde ein neues Vergütungssystem in den Krankenhäusern eingeführt, das die Höhe der Vergütung von der Schwere der Erkrankung und dem Aufwand der therapeutischen Maßnahmen abhängig machte, die Diagnosis Related Groups (DRG), oder auf Deutsch: Diagnosebezogene Fallgruppen. Diese Umstellung hatte und hat bis heute enorme Auswirkungen. Die Liegezeit von Kranken wird nun mit allen Mitteln reduziert, die Fallzahlen werden mit allen Mitteln erhöht und die Diagnosen werden so stark wie möglich dramatisiert, um in einer höhere Bezahlgruppe der DRG zu gelangen.

Quelle       :          TAZ             >>>>>           weiterlesen

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Grafikquellen        :

Oben     —       Aurich, Niedersachsen, Skulpturengruppe „Oma und Opa“ vor dem Historischen Museum in der Fußgängerzone

Source Own work
Author Evergreen68

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Unten      —         Catrinas – Day of the Dead Ladies

  • CC BY-SA 4.0view terms
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  • Created: 1 January 2014

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