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Geplatzte Steinmeier-Reise

Erstellt von DL-Redaktion am Sonntag 24. April 2022

Überflüssige Kapriolen

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Eine Kolumne von Samira El Ouassil

Deutsche Politiker scheinen zu glauben, die Ukraine müsse sich das Recht auf Unterstützung durch Unterwürfigkeit erst verdienen. Das ist verstörend.

»Bei allem Verständnis für die existenzielle Bedrohung der Ukraine durch den russischen Einmarsch erwarte ich, dass sich ukrainische Repräsentanten an ein Mindestmaß diplomatischer Gepflogenheiten halten und sich nicht ungebührlich in die Innenpolitik unseres Landes einmischen.« Das erwiderte der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich auf die mutmaßliche Ausladung (es gibt dazu bislang unterschiedliche und widersprüchliche Statements deutscher und ukrainischer Politikerinnen) von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Ich muss sagen: Das ist meine Lieblingsreaktion. Alles daran ist atemberaubend, beginnend mit dem großzügigen »Verständnis«, das freundlicherweise aufgebracht wird für diesen besonderen Umstand, dass man gerade massakriert wird. Mit der poetischen Bestimmtheit einer Alarmdepesche, welche im Wort »erwarte« kulminiert, werden von deutscher Seite Kommunikationsanforderungen an die ukrainische Regierung gestellt. Preußische Pluspunkte für dieses wohlklingende Vokabular: »Gepflogenheiten«, »ungebührlich«, »einmischen«, »Mindestmaß«.

Das ist deutsches Tone Policing, also ein erregtes Zurechtweisen, doch bitteschön den richtigen Ton zu treffen, in verstörendster Form, da hierbei offensichtlich die eigene Trompetenhaftigkeit nicht wahrgenommen wird.

Verschnupft bis passiv-aggressiv

Das politische wie mediale Echo, das auf diese brüskierende Nachricht folgte (die zuerst von der »Bild«-Zeitung in die Welt gesetzt wurde) steigerte sich von belehrender Verschnupftheit über beleidigte pädagogische Ratschläge zu einer kompletten Empathielosigkeit und allen weiteren möglichen Regungen passiv-aggressiven Besserwissens, das wir aus unseren hiesigen Debatten schon kennen.

Aber vor allem bei Mützenich stellte ich mir die Frage: Muss man wirklich Fassung und Contenance wahren, selbst wenn man gerade buchstäblich unter Beschuss steht, nur um vermeintliche diplomatische Verwerfungen zu verhindern? Müssen Akteure einer Regierung selbst unter Lebensbedrohung aufgrund kommunikativer Gepflogenheiten und einer vorgeblichen Strategie gegenüber dem gemeinsamen Feind – Geschlossenheit und Stärke zeigen! – dem politischen Knigge gerecht werden?

Dann merkte ich: Das ist die komplett falsche Frage. Die richtige lautet: Haben wir eigentlich den Arsch offen? Wie können gewisse deutsche Regierungsvertreter nach der Russlandpolitik der vergangenen Jahre und nach mindestens einem Jahrzehnt voller Fehleinschätzungen nicht nur das Westsplainen nicht sein lassen, sondern der ukrainischen Führung zudem das korrekte »Sich-angreifen-lassen« erklären wollen; um dann auch noch pikiert an ein komplett willkürliches Protokoll zu erinnern, um die Welt über die eigene Düpiertheit in Kenntnis zu setzen? In nur zwei symbolischen Gesten schafften es einige Abgeordnete von »Wir müssen eine Lösung finden, um weiteres Sterben zu verhindern« hin zu »Setzen, sechs!« (Wie ich diese Redewendung hasse). Dabei erstaunt es, mit welcher diplomatischen »Raffinesse« sich manche nun selbst an Präsident Selenskyj und an einer tonalen Unangemessenheit des ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk abarbeiten.

Haltungsnoten statt Lösungsorientierung

Was durch diese Empörung bewusst oder unbewusst kultiviert wird, ist die Erzählung einer undankbaren und allzu anspruchsvollen Ukraine. Meiner Ansicht nach schwächt diese engstirnig eingeforderte Außenwirkung von Einheit gegenüber Russland eher die gemeinsame Sache, als es der Wunsch der ukrainischen Regierung, doch lieber Olaf Scholz als den Symbol-Apostel Steinmeier in Kiew zu begrüßen, je könnte.

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Die Erwartungshaltung, ein Land müsse sich in solch einem Vernichtungskrieg das Recht auf Unterstützung durch eine unterwürfige Zugewandtheit verdienen und dabei aufpassen, keine Sympathien in Deutschland zu verspielen, empfinde ich als hochmütig und befremdlich – aber die Verschiebung von einer akuten, notwendigen Lösungsorientiertheit hin zum Haltungsnotenvergeben, das in den letzten Tagen die Bundesbefindlichkeit dominierte, ist nicht neu. Auch in Friedenszeiten ist es ein grundsätzliches Problem einiger Politiker, sich oftmals lieber an einer Formkritik abzuarbeiten, um nicht ertragen und anerkennen zu müssen, dass in der Kritik an der eigenen Politik auch etwas Wahrheit liegen könnte.

Quelle       :        Spiegel-online           >>>>>         weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —     Portrait vom Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier

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