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GAZA – Wie in einem Grab

Erstellt von Redaktion am Samstag 26. Februar 2022

Die Gewalt zwischen Israel und der Hamas lässt nicht nach

Von :   Felix Wellisch, Nils Fricke 

Die Folgen tragen zivile Opfer wie die elfjährige Farah Eslim

„Ich werde nie wieder laufen können“, sei ihr durch den Kopf geschossen, als sie auf der Liege eines Krankenwagens ihr blutiges Bein gesehen habe. Knapp eine Stunde zuvor hatte die elfjährige Farah Eslim in der Wohnung ihrer Familie im Viertel Al Sabra noch neben den Geschwistern im Bett gelegen. Es war kurz nach sechs Uhr an einem Morgen im Mai 2021. Sie hätten gehört, wie ihre Mutter in der Küche das Radio einschaltete – dann schlug eine Rakete ein. Farah wurde zu einem der zivilen Opfer der stets von Neuem wiederkehrenden Gewalt zwischen der israelischen Armee und radikalen palästinensischen Gruppen. Wie viele andere wird das Mädchen an den Folgen ein Leben lang zu tragen haben.

Gut ein dreiviertel Jahr später streift Farah in der Mietwohnung, in der ihre Familie jetzt wohnt, einen weißen Strumpf über den Stumpf des rechten Beins, das kurz unterhalb des Knies aufhört. Darüber zieht sie ihre cremefarbene Prothese und krempelt das Hosenbein herunter. Vor Kurzem war ihr zwölfter Geburtstag. „Am schwierigsten ist es, Treppen zu steigen“, sagt sie und wischt sich die schwarzen Haare aus dem Gesicht. Dann schiebt sie ihren Rollstuhl in die Zimmerecke und geht mit vorsichtigen Schritten in den Flur, wo ihr Vater für einen Spaziergang wartet. Behutsam steigen beide die rohe Betontreppe hinunter. Draußen hakt sich Farah bei ihrem Vater unter und zieht sich ihre Kapuze gegen den kühlen Wind über den Kopf. Bei jedem Schritt kratzt ihr Prothesenbein ein wenig über die Pflastersteine.

Anfang Mai 2021 feuerten die regierende Hamas und andere radikalislamische Gruppen im Gazastreifen innerhalb von elf Tagen mehr als 4.000 Raketen in Richtung des israelischen Staatsgebietes ab. Israels Luftwaffe bombardierte daraufhin über 1.500 Ziele im Gazastreifen. Zurück blieben 250 Tote auf palästinensischer und 13 auf israelischer Seite, die meisten davon Zivilisten. Hinzu kamen Hunderte Verletzte, zerstörte Wohnhäuser und das Leid der Angehörigen, die mit ihrer Trauer zurückbleiben, wenn der Staub der Explosionen sich gelegt hat.

Sie sah nur noch Staub

Farahs Familie lebte zu jener Zeit in einer kleinen Wohnung im obersten Stock eines Hauses im dicht besiedelten Quartier Al Sabra. Am frühen Morgen des 20. Mai 2021, als sie schwer verletzt wurde, erinnert sich Farah, konnte in ihrer Familie wegen der israelischen Luftangriffe nächtelang kaum jemand ein Auge schließen. Farahs Mutter Umm Saad erzählt, dass sie an der Tür der Wohnung saß und angespannt die Radionachrichten hörte. „Als es passierte, habe ich keinen Schmerz gespürt”, so Farah. „Ich sah nur noch Staub und Sand.“ Ihre Mutter berichtet, sie sei von der Wucht der Explosion ins Treppenhaus geschleudert worden, habe sich dann durch Rauch und Trümmer zurück in die Wohnung getastet und ihre Kinder hinausgetragen. Erst als sie beim dritten oder vierten Mal Blut auf dem Boden des Treppenhauses gesehen habe, sei die Angst zu ihr durchgedrungen.

Farahs Vater Hazem arbeitete in der Notaufnahme der größten Klinik von Gaza, dem Al-Schifa-Krankenhaus. Er sei dafür zuständig gewesen, die ankommenden Toten und Verletzten zu registrieren. „Ich kann den Moment nicht vergessen, als ich die Tür des Krankenwagens öffnete – und da saß Farah. Ich bin in meinem Job schlimme Bilder gewöhnt, Leute werden manchmal in Stücken zu uns gebracht“, sagt er, „aber als ich meine eigenen Kinder sah, war ich wie versteinert.“ Mit Farah kamen auch ihre Geschwister ins Krankenhaus, ihr neunjähriger Bruder mit einer schweren Kopfverletzung.

Krieg in Gaza 007 - Flickr - Al Jazeera Deutsch.jpg

Weniger als 24 Stunden später, am 21. Mai, kam die Waffenruhe. Farah hatte Glück: Mit mehreren weiteren Verletzten konnte sie für drei Monate zur Behandlung nach Jordanien, ihre Mutter begleitete sie. Derzeit lernt Farah für ihre Prüfungen in der sechsten Klasse, erzählt sie unterwegs auf einem Spaziergang. „Ich möchte Ärztin werden“, sagt sie. „Deshalb lerne ich und will gute Noten, damit ich in der Türkei studieren kann.“

Häuser werden nicht wieder aufgebaut – das Geld fehlt

Nach wenigen Minuten Fußweg stehen Farah und ihr Vater in einer engen Straße vor dem früheren Zuhause der Familie. Die Häuser sind vier oder fünf Stockwerke hoch. An Wäscheleinen trocknen bunte Kleider. Aus den Fenstern schauen Kinder. Vater Eslim steigt die fünf Stockwerke nach oben und öffnet die alte Wohnungstür. Sie gibt den Blick auf ein Flachdach frei. Nur noch orangefarbene Badfliesen an der Außenwand deuten auf die einstige Wohnung. „Hier in Gaza“, so Eslim, „baut kaum jemand sein Haus wieder auf, weil es sich niemand leisten kann. Die Wohnung war unser ganzer Besitz.“ Den Behörden und Vereinten Nationen zufolge wurden seinerzeit mehr als 1.300 Wohneinheiten vollständig zerstört. Auch sei die Verletzung seiner Tochter bis heute nicht offiziell anerkannt, sagt Hazem Eslim. Fahrten zur Nachsorge müsse er selbst bezahlen und auch die gut 200 Dollar Miete für die neue Wohnung würden nur noch für einige Monate von einer NGO getragen. „Danach weiß ich nicht, wie es weitergehen soll.“

Rund anderthalb Kilometer Luftlinie von Al Sabra entfernt führt die Al-Wahda-Straße vom Al-Schifa-Krankenhaus aus durch den Stadtteil Rimal. Viele Wohnhäuser an der Straße sind acht oder zehn Stockwerke hoch. Den Bewohnern von Gaza-Stadt galt diese Gegend als relativ sicher, weil sie in der Vergangenheit meist von Luftangriffen verschont geblieben war. So wähnten sich auch Riad Aschkantana und seine Frau in keiner großen Gefahr, als sie in der Nacht auf den 16. Mai ihre fünf Kinder ins Bett brachten. Sie hätten die Nachrichten eingeschaltet, als aus der Nachbarschaft erste Explosionen zu hören gewesen seien, erzählt Aschkantana.

Quelle         :           Der Freitag-online          >>>>>          weiterlesen

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Grafikquellen          :

Oben     —   Gedenkstätte im Stadtteil Sabra in Südbeirut mit einem Plakat zum 27. Jahrestag, 2009

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Unten     —   Ein verzweifeltes Gebäude in Gaza-Stadt

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