Für unseren Torjubel starben 15.000 Menschen

Wer Fußball liebt, darf über die toten Arbeitsmigranten in Katar nicht schweigen. Die dort ausgetragene WM findet symbolisch auf deren Gräbern statt.
Wir haben 15.000 Gründe, diese WM zu boykottieren. Im August 2021 veröffentlichte Amnesty International einen Bericht mit dem Titel »In der Blüte ihres Lebens«, in welchem es dem Tod etlicher Gastarbeiter in Katar nachging. Die darin zitierten Regierungsdaten zeigen, dass zwischen 2010 und 2019 15.021 Nichtkatarer aller Altersgruppen in dem Land gestorben sind – die Ursachen für diese Todesfälle jedoch nicht angemessen untersucht und die Familien im Unklaren gelassen werden.
Sechs Opfer lernen wir in dem Bericht kennen. Der Lkw-Fahrer Manjur Kha Pathan war 40 Jahre alt und arbeitete zwischen 12 und 13 Stunden am Tag. Er verlor das Bewusstsein und starb bei der Arbeit. Er hatte zuvor keine gesundheitlichen Probleme. Sujan Miah war Rohrleger, 32, und arbeitete auf einer Baustelle in der Wüste. Die vier Tage vor seinem Tod betrug die Temperatur dort 40 Grad. Seine Kollegen fanden ihn tot in seinem Bett. Er hatte zuvor keine gesundheitlichen Probleme. Suman Miah, Yam Bahadur Rana und Mohammad Kaochar Khan, Tul Bahadur Gharti arbeiteten hart in Katar und starben alle im Alter von 34 Jahren. Auch sie hatten zuvor keine gesundheitlichen Probleme.
Amnesty International hat 18 Totenscheine von Arbeitern untersucht, die Katar zwischen 2017 und 2021 ausgestellt hat. 15 dieser Dokumente enthielten keine genaueren Informationen über die Todesursache, die nebulösen Einordnungen wie »natürliche Ursache« lassen vermuten, dass keine Untersuchung dieser Fälle durchgeführt wurde.
David Bailey, ein Pathologe der Weltgesundheitsorganisation, erklärte der Menschenrechtsorganisation, dass die aufgeführten Todesursachen wie »natürliche Ursache« und »Herzversagen« keine angemessene Erklärung liefern: »Dies sind Formulierungen, die nicht auf einer Sterbeurkunde stehen sollten, ohne dass die zugrunde liegende Ursache näher erläutert wird. Im Grunde stirbt am Ende jeder an Atem- oder Herzversagen, und die Formulierungen sind ohne eine Erklärung des Grundes dafür bedeutungslos.«
Hinzu kommt: Die gerichtsmedizinische Untersuchung wird durch das in Katar geltende Gesetz, das Autopsien einschränkt, zusätzlich erschwert.

Im Februar dieses Jahres berichtete bereits der »Guardian« über die katastrophalen Arbeitsumstände. Der Beitrag enthüllte erstmals Sterberaten von Gastarbeitern, indem die Zeitung Daten der Regierungen ihrer Herkunftsländer gegenprüfte: »Mehr als 6500 Arbeitsmigranten aus Indien, Pakistan, Nepal, Bangladesch und Sri Lanka sind in Katar gestorben, seit das Land vor zehn Jahren den Zuschlag für die Fußballweltmeisterschaft erhalten hat.« Die tatsächliche Zahl der Todesfälle wird sogar noch höher eingeschätzt, da bei anderen Herkunftsländern, etwa den Philippinen oder Kenia, keine Daten erhoben wurden.
Laut »Guardian« sollen 37 Todesfälle direkt auf den Bau oder die Renovierung von acht Stadien zurückzuführen sein. Und auch hier wurde als Todesursache am häufigsten eine »natürliche« genannt. Die britische Zeitung hält es für »wahrscheinlich«, dass ein Großteil der Todesfälle mit diesen Großprojekten in Verbindung steht.
Sie sind gestorben wie Sklaven beim Bau von Pyramiden
Wir haben also etliche Gluthitzetote in einem autoritär regierten Staat im Zusammenhang mit der Vorbereitung der megalomansten und modernsten Sportveranstaltung der Welt. Sie sind gestorben wie Sklaven beim Bau von Pyramiden – und wir wollen da ernsthaft unberührt den Spielen zuschauen, Konfetti in Nationalfarben werfen und trottelige Freudentaumel-Selfies posten?
Schon vor Veröffentlichung dieser Todeszahlen war unsere Fähigkeit zur Verdrängung in Bezug auf die WM beeindruckend, da waren aber auch noch keine Menschen gestorben, sondern nur gefangen gehalten und verramscht worden. Der Journalist Benjamin Best recherchierte für den WDR 2019 vor Ort und interviewte eine Reihe von Gastarbeitern. Viele sprachen über die erschütternden Bedingungen dieser organisierten Ausbeutung: nicht ausgezahlten Löhnen, Wasser und Brot, Massenunterkünften. Eines der häufigsten Probleme war der fehlende Zugang zu den Papieren, die sich im Besitz der Arbeitgeber befanden, sodass die Arbeitnehmer nicht in der Lage waren, das Projekt zu wechseln. Bürokratische Fesseln für
eine moderne Sklaverei.
»Was aber«, so lautet eine etwas verklärende Überlegung, »wenn der Fußball«, der von diesem System sehr gut profitiert, ich wollte es nur noch mal erwähnen, »durch seinen spielerisch-pazifistischen Wettkampfcharakter eben genau die Verbesserung bringt, deren Notwendigkeit wir ja erst dadurch erfahren haben, dass wir dort überhaupt ein Spiel abhalten wollen?«

Für mich klingt das nach nervöser Selbstaffirmation, um den eigenen wirtschaftsgetriebenen Opportunismus nicht zugeben zu müssen. Zwar argumentiert die Fifa, einen positiven sozialen Wandel herbeiführen zu können, »alle Welt blickt jetzt auf Katar!«, doch die Realität sieht nach zehn Jahren Bekundungen und einigen zarten, aber offensichtlich nicht eingehaltenen Arbeitsrechtsreformen immer noch desaströs aus. Diese argumentativ behauptete Liberalisierung ist, Stand jetzt, gescheitert. Und wir haben an dieser Stelle noch gar nicht von anderen Menschenrechtsverletzungen gesprochen, wie der anhaltenden Diskriminierung von Frauen und queeren Menschen, den Pressefreiheitseinschränkungen, sowie von dem astronomischen Umweltschaden, welchen die WM in Katar erzeugen wird. Die positiven Entwicklungen beruhen auf einer verschwindend geringen Zahl wohlmeinender Projekte und gehen über Sportwashing (und da Katar auch eine klimaneutrale WM behauptet, Greenwashing) nicht hinaus. Und vielleicht ist es auch nicht Aufgabe eines spektakelhaften Fußballspiels, oder, wenn wir es ehrlicher betrachten, einer gewinnorientierten Massenveranstaltung, einen sozialen Wandel herbeizuführen. Aber internationaler Profisport ist, auch historisch betrachtet, schon lange mehr als Geld und Gesellschaftsmoment. Er ist selbstverständlich auch politisch. Und dadurch auch korrumpierbar und korrumpiert.
Quelle : Spiegel-online >>>>> weiterlesen
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Grafikquellen :
Oben — Präsident der Republik, Jair Bolsonaro während des Besuchs im Fußballstadion von Al Janoub.
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Unten — Samira El Ouassil (2018)